Kritik

Die Generation ’89

Polnische Lyrik auf dem Hintergrund der Zeitenwende

Man kann in diesen Tagen viel über die Ereignisse des Jahres 1989 lesen und hören, das für viele Länder Ostmittel- und Osteuropas zu einem Jahr des Umbruchs und des Neuanfangs geworden ist. Nach zwanzig Jahren wird Rückschau gehalten und Bilanz gezogen. Dabei geht manchmal etwas vergessen, dass die Zeitenwende nicht allein in der großen Politik ihre Spuren hinterlassen hat. Auch die Literatur registriert und verarbeitet die Erschütterungen, die stattgefunden haben. Gerade die Lyrik äußert ihr Wissen über 1989 allerdings eben meist nicht mit spektakulären Gesten. Sie nimmt zudem auch die feineren Zwischentöne auf und formuliert das Fazit ihrer Erkenntnisse oft erst längere Zeit nach den eigentlichen Ereignissen. Doch auch sie nimmt Stellung zu den Veränderungen in der Welt und im Menschen und erfasst dabei auch Kontinuitäten. Und manchmal tut sie dies alles selbst dann, wenn sie von den eigentlichen großen Ereignissen schweigt.

Die zeitgenössische polnische Lyrik ist im deutschsprachigen Raum erfreulich präsent und auch über die akademischen Kreise hinaus recht gut bekannt. Das ist nicht allein den Nobelpreisen für Czesław Miłosz (1980) und Wisława Szymborska (1996) und dem damit einhergehenden internationalen Erfolg zu verdanken. Auch die beiden anderen Großen der polnischen Lyrik, Zbigniew Herbert und Tadeusz Różewicz, haben hierzulande ein treues, wenn auch gewiss kleines Publikum erobern können. In den letzten Jahren schickt sich der Essayist und Dichter Adam Zagajewski an, in ihre Fußstapfen zu treten.

An dieser vergleichsweise komfortablen Lage haben nicht allein die Schreibenden selbst, sondern auch ihre Vermittler im deutschen Sprachraum ihren Anteil. Ohne Karl Dedecius’ unermüdliche Tätigkeit wäre ein Großteil polnischer lyrischer Stimmen, besonders des 20. Jahrhunderts, nie bis zu uns gelangt. Aber auch eine jüngere Generation von Übersetzern wächst langsam nach, wenn man beispielsweise an Doreen Daume denkt, die unter anderen Ewa Lipska ins Deutsche überträgt.

Auf diesem doch positiv stimmenden Hintergrund erfreut auch die hier anzukündigende, durchgehend zweisprachige Anthologie, die unser Bild von der polnischen Poesie erweitert und verfeinert und die allein schon durch ihr Zustandekommen bemerkenswert ist. Der Band „Polnische Poesie nach der Wende – Generation ’89“ geht auf ein slavistisches Seminar an der Universität Hamburg unter der Anleitung von Professor Robert Hodel zurück. Die Teilnehmenden des Seminars haben insgesamt 26 polnische Dichter (darunter drei Frauen) ausgewählt, die alle in den 1960er oder 1970er Jahren geboren wurden und daher beinahe automatisch in der einen oder anderen Form durch das Jahr 1989 geprägt worden sind. Jeder Student und jede Studentin verantwortete dabei die Übersetzung je eines Dichters.

Robert Hodel hat den Band herausgegeben und mit einem kurzen Vorwort versehen. Darin versucht er, eine knappe Einordnung der ausgewählten Autoren vorzunehmen. Auch wenn Hodel (wie andere Wissenschafter im Übrigen auch) eine eigentliche „Generation ’89“ postuliert, so meint er damit noch nicht, dass diese Dichter sich einzig auf politische oder soziale Themen konzentrieren. Im Gegenteil, gerade die „Dichtung jenseits der großen Politik ist zweifellos eines der prägendsten Merkmale der Generation ’89“, wie Hodel schreibt. Der Herausgeber identifiziert unter den in der Anthologie vertretenen Dichtern vier Tendenzen: Eine erste, von Musik und nordamerikanischen Dichtern (Frank O’Hara, John Ashbery) geprägte Richtung nehme Elemente der Massenkultur auf und strebe eine kolloquiale, manchmal vulgäre Sprache an. Eine zweite Richtung unterwandere eine herkömmliche Rezeption durch Gedankensprünge, durch wortreiches Leerreden, aber auch durch Selbstironie. Das Experimentieren mit Sprache, mit etymologischen und lautlichen Bezügen in der Tradition von Avantgarde und „linguistischer Poesie“ sei das Merkmal einer dritten Tendenz. Und schließlich suche eine vierte Richtung nach einer neuen harmonischen Ordnung der Welt und greife dabei oft auf klassische Formen zurück („Neoklassizisten“), wobei hier nicht selten auch aus einer religiösen Grundhaltung heraus geschaffen werde. – Hodel betont allerdings auch, dass manche der Autoren mehrere Tendenzen zugleich verkörpern können. Das deutet darauf hin, dass auch Hodel seine Klassifizierung zunächst als einigermaßen provisorisch versteht. Die in die Anthologie aufgenommenen Dichter befinden sich nach wie vor mitten in ihrem Schaffensprozess, und man muss daher für eine gültige Einschätzung und Einordnung ihres Werks auch ein wenig auf die Nachwelt vertrauen. – Der Band wird durch – allerdings etwas dürftig ausgefallene – biographische Angaben zu den einzelnen Autoren abgeschlossen.

Doch wenden wir uns nun den Gedichten und ihren Verfassern selbst zu. Die meisten Namen der für die Anthologie ausgewählten Dichter dürften einer deutschsprachigen Leserschaft noch nicht bekannt sein. Dies gilt jedoch nicht für alle: So ist im Band auch Andrzej Stasiuk mit Gedichten zu finden, den man bei uns allerdings bisher nur als Prosaautor und Feuilletonisten kannte. Von Mariusz Grzebalski lag bereits ein Gedichtband auf Deutsch vor („Graffitti“, Edition Korrespondenzen 2001, in der Übersetzung von Doreen Daume), und von Tomasz Różycki wird in Kürze das Poem „Zwölf Stationen“ in deutscher Übersetzung erscheinen (Luchterhand 2009, übertragen von Olaf Kühl).

Freilich kann man die 26 Dichterinnen und Dichter in dieser Sammlung nicht einfach in wenigen Worten umfassend charakterisieren. Es wäre wohl auch keine gelungene Anthologie, wenn darin nicht eine breite Palette an Themen, Stilen und Formen zum Ausdruck gelangen würde. Neben den minimalistischen Sprachspielen eines Robert Tekieli finden sich bei vielen Autoren längere, oft philosophisch ausgerichtete Gedichte. Intime, beinahe kammerspielartige, von (bisweilen auch expliziter) Sexualität durchdrungene Gedichte wechseln sich ab mit Versen, in denen die Entdeckung der großen Welt gefeiert wird. Das Reisen ist ein Thema, das offenbar viele Vertreter dieser Dichtergeneration miteinander verbindet: So ergründet Miłosz Biedrzycki (*1967 in Slowenien) in „die erste wirklich kühle nacht“ die norwegischen Fjorde unter dem Januarhimmel, Krzysztof Koehler (*1963) erobert mit seinem Namensvetter Christoph Kolumbus noch einmal Amerika und Anna Piwkowska (ebenfalls *1963) befragt in einem Gedicht Eisenbahnwagen nach ihren Bestimmungsorten („Der Zug“). Sie alle scheinen dem Unterwegssein, der Bewegung verpflichtet: Vielleicht ist dies auch eine ferne und indirekte Reaktion auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Heimat. Mancher Dichter in der Anthologie reflektiert sein lyrisches Werk. Auch dieses metapoetische Element, das Bewusstsein für das eigene Schaffen, scheint zahlreichen Vertretern der Generation ’89 gemeinsam zu sein. Dies mag darauf hindeuten, dass gerade eine Generation, die Zeugin von großen Umwälzungen geworden ist, sich immer auch wieder des Stellenwerts und der Rolle des eigenen poetischen Schaffens versichern muss und will. Mancher kreist aber auch um seine persönliche Befindlichkeit, wie etwa der 1968 in Krakau geborene Artur Szlosarek in einem schönen Gedicht:

das mag ich

ich mag vormittags gedichte
auf der toilette lesen, wenn sich die lichter vermischen,
elektrische und natürliche,

ich mag mich in einer warmen nacht an den fluss setzen
und den atem anhalten, fühlen, wie sehr er
ein sakrileg ist

[...]

ich mag den wie johannisbeersaft berauschenden
schlaf im sommer – dieses bewusstlose aufwachen
und der duft einer aus dem regen auftauchenden straße,

dieses zögern, wenn ich vorgebe, nicht zu warten,
bis der zufall entscheidet, dieses denken
an schicksal, an vorbestimmung.

Die Anthologie „Polnische Poesie nach der Wende – Generation ’89“ ist aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte ein schönes Beispiel für eine nicht bloß im Elfenbeinturm verharrende, sondern auch nach außen tretende Literaturwissenschaft. An den Übersetzungen könnte man zwar hie und da eine sprachliche oder stilistische Unsicherheit monieren oder zumindest diskutieren. Doch die deutschen Versionen der Gedichte erstaunen gleichwohl durch die offenkundige Tiefe der Reflexion am Original, die der Übertragung vorausgegangen sein muss. Vielleicht erweist sich hier gerade die gemeinsame interpretierende Arbeit an den Gedichten durch die Studierenden des Seminars als ein Glücksfall: Im besten Fall bleibt dann die Übertragung des Gedichts nicht allein die Angelegenheit eines Individuums, sondern nimmt die kollektive Lektüreerfahrung in sich auf.

Robert Hodel (Hg.)
Polnische Poesie nach der Wende
Generation 89
2008
ISBN:
978-8-389663580

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