Kritik

Musik ohne Vorbilder

Mit seiner oral history über die Düsseldorfer Elektronikszene stimmt der Die Krupps-Sänger Rüdiger Esch mit seinen Weggenossen zu einem polyphonen Abgesang auf eine vergangene Zukunft an.
Hamburg

Geht es um Düsseldorfer Musik, ist meistens nur von zwei Bands die Rede: Entweder den Toten Hosen oder aber Kraftwerk. Beiden ist gemein, dass sie nicht gut gealtert sind. Die Musik der Bommerlunder-Boy-Band  läuft mittlerweile auf CDU-Wahlsiegparties während die Wegebereiter von Hip Hop und Techno, mittlerweile auf das einzig verbliebene Originalmitglied Ralf Hütter reduziert, auf die eigene Musealisierung hinarbeiten. Beide Bands sind immerhin soweit gealtert, dass sich umfassende Buchpublikationen einstellen. SPIEGEL-Redakteur Philipp Oehmke portraitierte kürzlich die Punkparodisten von den Toten Hosen in Am Anfang war Lärm und die Bibliografie zu Kraftwerk ist schon mittlerweile unüberschaubar geworden. Jüngst erschien eine weitere, dezidiert als unautorisiert angekündigte Biografie der Band vom britischen Musikjournalisten David Buckley in der deutschen Übersetzung bei Metrolit.

Unautorisiert war diese deshalb, weil die beiden Köpfe hinter dem Kraftwerk-Mythos – neben Ralf Hütter wäre da noch der 2009 ausgestiegene Florian Schneider-Esleben – sich wenn überhaupt nur selten zu Wort melden. So findet sich auch kein einziges Zitat der Beiden in Electri_city, der von Rüdiger Esch herausgegebenen oral history, die sich einem Teil der musikalischen Entwicklungen in Kraftwerks Heimat- und Wirkungsstätte Düsseldorf in den Jahren 1970 bis 1986 widmet. Nur einem Teil? Richtig, denn wie bereits der Untertitel verrät, geht es um Elektronische Musik aus Düsseldorf, nicht also um die rotzigen Toten Hosen, die sich 1982 in der Stadt gründeten. 

Zu Wort kommt eine Generation, die bei Altnazis die Schulbank drückte und im Radio die Sendungen von John Peel in sich aufsog, während sie sich auf der Suche nach einer eigenen Identität befand. »Wir wollten die deutsche Vergangenheit hinter uns lassen, es ging darum, die konservativen Strömungen einer Nachkriegsgesellschaft und der Nazizeit zu unterlaufen«, erklärt Michael Rother, der als Mitglied von Kraftwerk, Neu! und Harmonia als wesentliche Figur der Düsseldorfer Szene gilt. »Eine Musik ohne Vorbilder« sollte es sein, erklärt Rother weiter und meint damit auch: Eine Musik, die sich von den gängigen Konventionen der Vergangenheit löste. 

Popstrukturen wichen ausdauernden Jam-Sessions, die auf dem Motorik-Beat – von seinem Erfinger Klaus Dinger als »Apachenbeat« bezeichnet – über die Kraftwerksche »Autobahn« ein Neu!es »Hallogallo« veranstalteten. Die aus den USA und England importierten Rockgitarrenklänge der sechziger Jahre wichen zunehmend elektronischen Klängen und der »virus electronicus«, von dem der ehemalige Kraftwerk-Schlagzeuger Wolfgang Flür in seinem Vorwort zu Electri_city schreibt, breitete sich langsam im Rheingebiet, Europa und schließlich der Welt aus. Bis die Maschinen, ganz wie von Kraftwerk erträumt, langsam die Aufgaben des Menschen übernahmen und ihn schlussendlich geradezu überflüssig machten.

»Ich halte den Erfinder eines Sequenzers für DAF fast für wichtiger als Robert oder mich. Ohne Scherz. DAF, das war Zeitgimmick, das war ein Style, der total passte, wie das Neondreieck«,

erinnert sich Gabi Delgado an sein gemeinsames Musikprojekt mit Robert Görl, das der ironisierten Deutschtümelei von Kraftwerk eine noch drastischere, vom Punk der Endsiebziger beeinflusste Wendung gab. So führt Rüdiger Esch, der mit seiner Band Die Krupps selbst zu den Protagonist_innen der Szene zu zählen ist, folgerichtig im Anhang der über 400 Seiten starken oral history neben den Biografien der Interviewten auch die für den Sound der Rheinstadt prägenden Synthesizer, Sequencer und Drummachines auf.

Doch nicht nur die Maschinen werden in Electri_city ausgiebig gewürdigt, sondern auch die vergessenen Figuren, die ihr futuristisches Potenzial zu verwerten wussten. Das Kraftwerk-Mitglied Karl Bartos sowie der vielleicht einflussreichste deutsche Produzent der siebziger und achtziger Jahre, Conny Plank, erfahren ebenso ihre Würdigung wie der Synthesizerfanatiker Chrislo Haas, der mit dem Sound seines Korg MS-20 die Ästhetik der Düsseldorfer Elektronik nach Einbruch des Punk maßgeblich prägte. Lediglich Kraftwerk kommen selten gut weg – und können sich nicht einmal gegen die scharfen Vorwürfe bezüglich Urheberrecht, Geldfragen und zwischenmenschlichen Stupiditäten wehren.

Die Stimmen der fast auf jeder Seite genannten Kraftwerker ist jedoch nicht das einzige, was Electri_city fehlt. Esch hat zwar in über 50 persönlichen Gesprächen den meisten der Protagonist_innen ihre – zum Teil erheblich von denen der anderen abweichende – Sicht auf die Geschichte der Düsseldorfer Szene entlocken können, hier und dort musste er sich jedoch mit E-Mails, zweitverwerteten Interviews oder gar Blicken in Jürgen Teipels Verschwende deine Jugend aushelfen müssen. Das Prinzip der oral history, das Teipel selbst in einer recycelten Sammlung von DJ-Statements, das kürzlich ins Englische übersetzte Der Klang der Familie oder der patente Wälzer WienPop durchgespielt hatten, liest sich nicht annähernd so lebendig und streitlustig wie Teipels bahnbrechender Abriss der deutsch-deutsch-deutschen Musikgeschichte, den Verschwende deine Jugend präsentierte.

Immerhin untermauert er mit Gastauftritten von Fans, die selbst Musikgeschichte geschrieben haben, die enormen Auswirkungen der Musik von Kraftwerk, Neu!, Der Plan oder DAF auf das internationale Musikgeschehen. Vom Garagenrocker Iggy Pop über die Synth-Popper von Ultravox und OMD hin zur Disco-Legende Giorgio Moroder oder Depeche Mode-Entdecker und Mute-Labelgründer Daniel Miller mischen viele Prominente mit und festigen die Behauptung des britischen Musikjournalisten Bob Giddens, dass Deutsch als Sprache und damit auch Identität »nicht nur im Schlagerbereich salonfähig, sondern auch für ernsthafte, nicht-behämmerte Musik«  geworden war. Die Gegenkultur konnte sich zumindest zeitweise von historischen Altlasten und der muffigen Gegenwart des bundesdeutschen Mainstreams freischütteln. Jedoch: Das sieht heute wieder anders.

Wie jedes Geschichtsbuch lädt auch Electri_city zum Vergleich mit dem Hier und Heute ein. Und da bleibt neben den Mittelschichtspunks von den Toten Hosen eben nur Ralf Hütter, der mit Kraftwerk über Tage in größeren europäischen Städten Einzug hält, um Abend für Abend ein Jahrzehnte altes Album nach dem anderen aufzuführen. Was daran schmerzt, ist weniger die Nostalgie des Publikums noch die offensichtlich finanziellen Interessen der Erblassverwalter, sondern vielmehr die Gewissheit von uneingelöst gebliebenen Versprechen. Electri_city findet sein Ende im Jahr 1986, als die neugefundene Identität ohne Vorbilder ihren Einzug in den Mainstream hielt und langsam zu einem Brei versickerte. Damit verloren sich auch die hellsichtigen Zukunftsvisionen, aus denen die Düsseldorfer Szene, angefeuert vom Zusammenspiel mit der Kunstszene der Zeit, gesamt- beziehungsweise geteiltdeutschen Zuständen und dem ambivalenten technologischen Fortschritt einer ganzen Ära, ihr Potenzial schöpfte.

Von denen zu lesen, ist eines, sie in Aktion zu hören ein anderes. Das von Herbert Grönemeyer gegründete Plattenlabel Grönland, das sich bereits dem Erbe von Hans-Joachim Roedelius und dessen Band Harmonia gewidmet hat, veröffentlicht die passende Compilation zum Buch. Kraftwerk sind nicht dabei, dafür aber La Düsseldorf mit ihrer treibenden Hymne auf die elektronische Stadt ebenso wie DAFs zynisch-ambivalenter Tanz zum Mussolini und wichtige Szeneerfolge wie »Wahre Arbeit Wahrer Lohn« von Esch‘ eigener Band Die Krupps. Es ist eine mehr als schöne Ergänzung zu dem polyphonen Abgesang auf eine vergangene Zukunft, der in Electri_city zu lesen ist.

Rüdiger Esch
Electri_City
Elektronische Musik aus Düsseldorf
Suhrkamp
2014 · 459 Seiten · 14,99 Euro
ISBN:
978-3-518-46464-9

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