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Kritik

Rette mich wer kann

Man wird die Prägungen seiner Kindheit nicht los: Sadie Jones legt mit »Jahre wie diese« ihren vierten Roman vor – und er ist sehr gut.
Hamburg

Die Anstalt, stellt Paul fest, ist schlimmer als jeder Horrorfilm. Es riecht furchtbar, es sieht furchtbar aus. Irgendwo schreit jemand. Paul versucht, den Ort mit den Augen seines Freundes Luke zu sehen, als früheres zweites Zuhause, als Platz für Spiel und Hausarbeiten. Aber das ist es nicht. Es ist, was es ist: ein Irrenhaus.

Und dann lesen wir:

»Luke schien zu glauben, er habe die Liebe einer Mutter gekannt, so wie andere Kinder, aber jede Normalität, die er besaß, war angelernt.«

Die Passage findet sich schon gegen Ende des Buchs, und bis dahin haben wir oft Gelegenheit gefunden zu sehen, daß Lukes Normalität bloß angelernt ist. Davon erzählt uns Sadie Jones, britische Autorin des Jahrgangs 1967, die mit ihrem Romanerstling »Der Außenseiter« 2008 einen (sehr verdienten) internationalen Erfolg hatte. Nun liegt ihr vierter Roman vor, »Jahre wie diese«. Die Geschichte von Luke und Paul und Leigh und Nina.

Luke ist in einer britischen Kleinstadt als Sohn eines Alkoholikers und einer Verrückten ausgewachsen. Für den Vater mußte er den Wodka besorgen, die Mutter mußte er in der Anstalt besuchen. Er kennt kein anderes Leben. Aber dann, zu Beginn der siebziger Jahre, als er mit der Schule fertig ist, beschließt Luke, nach London zu gehen. Dort gibt es das zuhauf, was ihn interessiert: Theater. Schauspieler, Autoren, Regisseure. Scheinwerfer, Bühnenstaub, Adrenalin. Und es hat bereits angefangen zu gären in ihm, es gibt Wörter, die rauswollen, Sätze, Szenen.

In London gründet Luke zusammen mit Paul, der ein echter Theaterproduzent werden will, und Leigh, die eine echte Autorin werden will, aber erst mal nur als Inspizientin arbeitet, ein freies Theater. Luke selbst schreibt zunächst nur heimlich; sein Geld verdient er als Müllmann. Paul und Leigh werden ein Paar, obwohl Leigh eigentlich immer bei Lukes Erscheinen die Luft anhalten muß. Aber Luke ist eben ein Hallodri, einer, der Mädchen mit derselben Regelmäßigkeit und mit demselben emotionalen Engagement flachlegt, wie er Tee trinkt. 

Dann begegnet Luke Nina. Nina, die wir als Leser bereits kennenlernen durften, bevor Luke sie das erste Mal sieht – auf einer Bühne. Nina, die mit einer dominanten Mutter geschlagen ist, die ihr den Erfolg als Schauspielerin einprügelt, den sie selbst nicht gehabt hat. Nina, die sich konstant erniedrigen läßt. Dadurch, daß sie sich von der Mutter die Verehrer ausspannen läßt. Dadurch, daß die Mutter ihr einen der eigenen Verehrer überläßt, den sie heiratet. Und dann läßt Nina sich von diesem Mann, der nebenher ein Faible für Strichjungen pflegt, weiter erniedrigen.

Bis Luke kommt. Luke will Nina retten. Was natürlich schiefgeht.

Luke ist mit Anfang zwanzig noch zu jung um zu wissen, daß das mit dem Retten so nicht funktioniert. Daß er eigentlich seine Mutter retten will, was er nicht kann. Daß er auch sich selbst retten will, was er könnte, aber nicht auf diese Weise. Daß Nina nur sich selbst helfen und er sie allenfalls unterstützen kann. Daß aber auch das bloß dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn Nina will. Aber sie will nicht. Sie will erniedrigt werden. Und so stürzt die Geschichte in ihren Abgrund voller Sehnsucht und Schmerz und Verrat. Man wird die Prägungen seiner Kindheit nicht los.

Bis wir das alles miterlitten und verstanden haben, haben wir nebenher die gesamte Geschichte der wilden Londoner Theaterjahre in den Siebzigern gelernt, haben Aufführungstechniken und Spielorte und  Schauspielkunst miterlebt, plus, nicht nur am Rande, Partys und Drogen und Dekadenz. Wir durften zurückgehen in eine Zeit, in der Musicals wie »Hair« das spießige Bühnengeschehen aufgebrochen haben, gleichzeitig aber Prüderie und Sexismus immer noch vorherrschend waren. Die Leute echauffierten sich über Stücke, sie pfiffen und schimpften und brüllten »Skandal«. Aber sie gingen ins Theater. Fernsehen? Wen interessierten schon Flimmerkisten, wenn man lebendige Menschen auf der Bühne sehen konnte.

Sadie Jones erzählt davon kenntnisreich und warmherzig und nah an ihren Figuren. Ein schönes Buch. Nach dem »Außenseiter« waren die beiden folgenden Romane etwas abgefallen, aber »Jahre wie diese« ist wieder ein gelungener Wurf. Nicht ganz so phantastisch wie der Erstling, doch ein sehr guter Jones. So gut, daß man der Autorin sogar das Ende abnimmt. Was da passiert, kommt etwas plötzlich und ist eine Spur zu süßlich und eigentlich auch ein Bruch mit den Folgerichtigkeiten der vorhergehenden Geschichte. Aber nun. Irgendwas im Leben muß ja schließlich mal belohnt werden.

Sadie Jones
Jahre wie diese
Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek
DVA Belletristik
2015 · 416 Seiten · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-421-04629-1

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