Verloren und verzweifelt, aber ohne Gesellschaft
Im Wesentlichen scheint er zu passen, der Titel des neusten Lyrikbandes von Safiye Can, Kinder der verlorenen Gesellschaft, steckt doch sehr viel Verlorenes in ihm weitab irgendwelcher Realgesellschaften oder gar – wie der Titel suggerieren würde – der Kritik an denselben. Stattdessen finden sich hier Sprachbilder längst hinter uns geglaubter Epochen wieder – gespieltes Pathos, Ausdruck eines Pseudoverzweifelns an der Gesellschaft, das so wohl nur im bürgerlichen westeuropäischen Wohnzimmer hatte entstehen können. Um dieser Polemik Hand und Fuß zu verleihen, sollen hier die Aussagen vom Klappentext der Reihe nach geprüft werden: Darin werden den Gedichten Safiye Cans folgende Attribute zugesprochen: „[…] – originell, rhythmisch und zielsicher […]“
Originell
Originalität speist sich – meines Erachtens nach – aus dem Drang, Neues nicht nur auszuprobieren, sondern es auch zu wagen und gegebenenfalls daran zu scheitern. Was sofort beim Lesen des Bandes Kinder der verlorenen Gesellschaft auffällt, ist der Drang, gängige Schemata experimenteller Lyrik abzuschreiben, ihnen aber keine neue Tiefendimension zu verleihen. Das Gedicht Integration (S. 12) beispielsweise verkommt durch seine abgekupferte Form zur Floskel und die darin zum Ausdruck kommende, durchaus ernstzunehmende Thematik zur Plattitüde. Ähnlich verhält es sich mit dem Zweizeiler Solingen, 1993:
„Wann immer ich Solingen höre
brennt ein Haus vor meinen Augen.“ (Solingen, 1993)
Der Hinweis auf die pogromartige Stimmung in Solingen im Jahre ´93 reicht nicht aus, um aus der subjektiven Aussage ein Gedicht zu zimmern. Auch ein Verweis auf Brechts Alfabet und dessen Ypern-Vierzeiler will nicht richtig zünden, da Cans Solingen-Gedicht einfach verloren und ohne jeden Kontext im ersten Zyklus des Bandes herumschwirrt. Die poetische Aufladung findet nicht statt, und der zweite Vers verliert seine Kraft im Zuge der voranschreitenden Lektüre.
Rhythmisch
Bezüglich des Rhythmus sei hier auf das sehr dürftige Handwerk in diesem Band verwiesen. Angesichts einer Fülle an zeitgenössischen Lyriker*innen, deren Handwerk einen von Mal zu Mal sprachlos zurücklässt (hier sei lediglich ein Verweis auf die Gedichte von Katharina Schultens gestreut!), muten die Gedichte in Kinder der verlorenen Gesellschaft etwas lieblos bezüglich ihrer Verarbeitung an. Hier kommt ein Problem zum Ausdruck, das sich aus der einfachen Tatsache speist, dass sich Vorstellungen einer Gefühlslyrik, wie sie das 19. Jahrhundert hervorbrachte, nur schwer mit den Ansprüchen einer ernstzunehmenden, zeitgenössischen Lyrikproduktion vereinen lassen (vielleicht aber irre ich auch und werde eines Besseren belehrt, dieser Band jedenfalls löst eine mögliche Vereinbarkeit nicht ein!). Zudem begleiten Cans Verse immer wieder Kinderkrankheiten, die ein eindringlicheres Lektorat bzw. Korrektorat hätte verhindern können: Etliche Tippfehler beispielsweise unterstreichen das harte Urteil.
Dabei kann die Autorin auch anders: Im Zyklus Pianissimo I-X lässt Can erkennen, dass sie handwerklich aus feinerem Holz geschnitzt ist, als die viel zu laxe Verarbeitung vorangehender Gedichte vielleicht suggerieren mag. Dieser Zyklus bietet durchaus geerdete Bilder, an denen sich die Autorin sprachlich abarbeitet. Die Frage, die sich jedoch aufdrängt, ist, wieso gerade diese Gedichte als Kotexte für die restlichen Gefühlsskelette herhalten müssen:
„Aus dem Boden schießen Bäume
frankfurterbankenhoch, du kannst
das Licht an- und ausknipsen, aber
wir wären in keiner Discothek, und
auf Händen könnten wir die Straßen
überqueren, was brächte das?
Noch trage ich Größe S und du den Bart
zieh den Vorhang zu, lass die Jalousien
runter, wir wollen über Gedichte reden
über Gedichte, die sich nicht in den
Bibliotheken deutscher Haushalte
befinden, über
damit-verdienst-du-keinen-Cent-Gedichten
über schreib-besser-einen-Roman-Gedichte
über welcher-Verlag-fühlt-Gedichte-Gedichte
heute kamen Absagebriefe, die Bäume
lassen Federn, die Vögel
das Laub.“ (Aus dem Boden schießen Bäume)
Zielsicher
Einige Verse im vorher zitierten Gedicht lassen erahnen, dass die Autorin viel mehr zu sagen hätte, würde sie nicht ständig über vorgestrige, so schon tausendfach gelesene Gefühlsbilder stolpern. Welche Bücher, die in keinem deutschen Haus zu finden sind, meint das lyrische Ich? Und wer ist Onkel Cemil, dessen Name im Gedicht Möglicherweise ganz und gar derart hervorsticht, dass man gleich fünf mögliche Biographien sich hinzureimt. Doch statt einer bereits angedeuteten, nicht-deutschen Biographie etwas mehr Raum zu geben, wählt die Autorin den Weg ins nackte Klischee: Die nachfolgenden Zyklen Azurblauer Aufbruch und und Aus dem Kind ist nichts geworden sind nichts weiter als Aneinanderreihungen von Klischees, Jargon, Floskeln und Plattitüden! Das ganze kulminiert im Gedicht Inspiration:
„Ich gebe mir zwei Backpfeifen
denke, Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht
warte eine Stunde auf Godot
werfe den Rettungsring zum Fenster hinaus
höre dem Gras beim Wachsen zu
schreie „Gott behüte“ und backe
ganz kleine Brötchen.[…]
Ich höre Nachrichten und senke den Daumen
dem Kurier lese ich gerne ein paar Leviten
ich sage, lass mich nicht lügen und lüge
stürze auf den Boden, zucke zwei-dreimal
entdecke eine Spinne und sage: pfui!
Ich schaue mir das Blaue vom Himmel an
öffne die Wohnungstür und falle
aus allen Wolken[…]
Ich schnalle den Gürtel weiter
und fange an, Geigen in den Himmel
zu hängen, für den Leser.
Ich schaue auf die Uhr, es schlägt dreizehn
ich hisse die weiße Fahne
spitze vier Kugelschreiber, zünde mir einen Bleistift an
und siehe da, es ist soweit:
ich kann mich in Grund und Boden
schreiben.“ (Inspiration)
Der Ärger über so viel Kitsch und Augenschein überwiegt und zwingt mich, ein viel zu subjektives Urteil abzugeben: Den letzten und titelgebenden Zyklus Kinder der verlorenen Gesellschaft, ein sich über fünfzehn Seiten erstreckendes Langgedicht, brach ich mit folgenden Zeilen ab: „[…] Er brach wie eine Mahler Symphonie / in mein Leben ein […]“
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