Mädchenliteratur um das Jahr 1000
In Kyoto, der damaligen Hauptstadt Japans, schrieben um das Jahr 1000 zwei Frauen an Büchern, die Jahrhunderte später in den Kanon der Weltliteratur aufgenommen wurden. Murasaki Shikibu und Sei Shonagon, die sich persönlich allenfalls gestreift haben dürften, waren beide am Kaiserhof tätig – nicht etwa als bestallte Schreiberinnen, sondern als Unterhalterinnen ihrer Herrschaft. Dabei standen Literatur, Konversationskunst, das Rezitieren fremder und Verfassen eigener Verse, verschiedene künstlerische Fertigkeiten, der Sinn für Schönheit im allgemeinen zwar im Mittelpunkt, aber das Schreiben selbst erfolgte mehr oder minder im Geheimen. Sei Shonagun hatte ihr Kopfkissenbuch nach eigenem Bekunden nicht zur Veröffentlichung bestimmt; in einer Art Nachwort behauptet sie, das Buch sei ihr von Minamoto no Tsunefusa, einem der höchsten Beamten der Hauptstadt, gewissermaßen stibitzt worden.
Die beiden Bücher, die die Sei und Murasaki hinterlassen haben, sind höchst unterschiedlich, und so verraten sie, das eine auf unmittelbare, das andere auf indirekte Weise, zwei ganz unterschiedliche Charaktere. Sei Shonagon scheint sich am Hof pudelwohl gefühlt zu haben, während Murasaki Shikibu, sicher auch durch ihre persönlichen Lebensumstände bedingt, in kritischer Distanz zu ihrer Umgebung lebte, die sich im Lauf der Jahre vergrößerte und ihrer Beobachtungsgabe förderlich war. Die Autorin des Genji Monogatari wird man sich als reife Frau vorstellen, die mit großer Bewußtheit und Ausdauer an ihrem umfangreichen Werk arbeitete. Die Person hingegen, die mehr oder minder spontan im Rhythmus der Tage Eindrücke, Erlebnisse, Vorlieben, zuweilen auch Flausen auf die Blätter schrieb, die sie als Packen unterm Kopfkissen zu verstecken pflegte, hat sich bis hinein in die Zeit der Niederschrift, als sie am Kaiserhof bestens integriert war, und bei all der Klugheit, die ihr auch eignet, eine mädchenhafte Naivität bewahrt – die der Kaiserin, der sie diente, offenbar gefiel.
Das Kopfkissenbuch könnte man geradezu als Vorläufer der heutigen, in Japan massenhaft verbreiteten Mädchenliteratur, besonders der Shojo-Mangas, erachten. Die neue Übersetzung von Michael Stein trägt dem Rechnung, indem sie immer wieder flotte, bald flapsige, bald sentimentale Ausdrücke verwendet, Wörter des Staunens, der Begeisterung oder – seltener – des Mißfallens, wie sie unter jungen Leuten im 21. Jahrhundert üblich sind. Diese Sprache verträgt sich mit dem höfischen Milieu, mit der Sorge um Rangordnungen, die den heute maßgeblichen, massenmedial vermittelten Rankings vielleicht sogar wesensverwandt sind. Die Hofdame plaudert über „Flirts“, sie findet eine Sache „spannend“, eine Person „sympathisch“ oder „unsympathisch“, sie hat einen Gedanken „geklaut“ und will die „Nummer 1“ sein, und wenn sie von der Kaiserin einmal zurechtgewiesen wird, ist sie „geknickt“. Der solcherart sprachlebendige Text hat alles Akademische abgestreift, das der älteren, unvollständigen, um nicht zu sagen rudimentären, recht beliebig zusammengestellten Übersetzung von Helmut Bode noch anhaftete. Er kleidet die Verfasserin, die viel und unumwunden von sich selbst spricht, bestens – fast möchte man sich vorstellen, wie Sei Shonagon vor Begeisterung angesichts der gelungenen Übertragung in die Hände klatscht. Die beiden großen Prosabücher aus der Heian-Zeit lassen sich nur sehr bedingt mit älterer europäischer Literatur vergleichen, aber die scharfsinnige psychologische Darstellung von Charakteren und Begebenheiten im Genji Monogatari mag kundige Leser an die scharfsichtige Porträtkunst eines Saint-Simon, der das Leben am Hof Ludwigs XIV. beschrieb, erinnern – während das Kopfkissenbuch mit seinem weicheren Stil und dem Subjektivismus seiner Autorin vielleicht an Montaignes Essais denken läßt.
Schon bei einem flüchtigen Blick ins Kopfkissenbuch fallen die vielen Listen auf, die Sei Shonagon mit offensichtlichem Vergnügen immer wieder zusammenstellt: Berge, Märkte, Gipfel, Ebenen, Schluchten, Seen, Kaisergräber; was mir Furcht einflößt, was rein wirkt, was jämmerlich wirkt, was mir banges Herzklopfen bereitet, usw. usf. Manchmal sind es bloße Namenslisten, manchmal weitet sich die Reihung zur Erzählung. Einerseits ist die Autorin sichtlich um Inventarisierung bemüht, um eine Art Welterfassung, andererseits sind diese Listen meist persönlich gefärbt, sie bekunden Vorlieben und fügen Geschmacksurteile zu den erwähnten Dingen, Orten, Gemütszuständen. Ja, das Kopfkissenbuch ist entschieden geschmäcklerisch. Die Verfasserin will niemanden überzeugen, sie scheint ihre Listen tatsächlich nur für sich selbst aufgeschrieben zu haben, um ein wenig Ordnung in ihre Welt zu bringen. Im Grunde ähnelt auch diese Vorgangsweise (oder Umgangsweise) einer heute verbreiteten Haltung, nämlich der Rückführung von Eindrücken auf like und dislike, auf „geht“ und „geht nicht“, Daumen rauf und Daumen runter. Sei Shonagon differenziert, die vielfältigen Listen greifen über sich hinaus und bilden ein feinmaschiges Netze, doch ihre Stellungnahmen drücken stets diese Freude am – ihrer Meinung nach – guten Geschmack aus, den sie Tag für Tag spielen läßt. Das oft spielerische, leicht ironische, selten ganz ernst gemeinte Liken und Disliken ist ein wesentlicher Bestandteil der höfischen Alltagskultur, wie Sei Shonagon sie uns überliefert.
Das vorrangige Kriterium solcher Geschmacksurteile ist die Schönheit, und nicht etwa Nützlichkeit, Kraft, Macht oder dergleichen (ein Autor des 20. Jahrhunderts behauptete: „Schön ist, was uns nützt“). Theoretische Diskussionen, Urteilsbegründungen liegen Sei Shonagon fern; ihr Schönheitsbegriff ist einerseits mit dem Raffinement der Phänomene verbunden (je feiner, desto schöner), er nähert sich in der Praxis aber häufig dem, was man heute in Japan oft und gern und manchmal bis zum Überdruß als kawaii bezeichnet – ein Wort, dessen Bedeutung mit „hübsch“ oder „lieb“ oder „süß“ wiedergegeben werden kann. Kawaii wirken übrigens auch viele der porträtierten Männer, im Kopfkissenbuch ebenso wie im Genji Monogatari, die Frauen im Dunstkreis des Kaiserhofs bevorzugen den kultivierte, gepflegten, kunstsinnigen Typus; Krieger, Machos, Sportler – sofern überhaupt welche auftauchen – finden sie nicht so anziehend. Trotz dieser Neigung zum kawaii-Geschmack beweist Sei Shonagon aber immer auch ihr Differenzierungsvermögen, das im Geselligkeitsspiel mit den Hofdamen, Hofmännern und Liebhabern erwünscht und hoch angesehen ist. Beispielhaft sehen wir dieses Vermögen etwa in ihrem Listentext über Baumblüten am Werk, die sie in ihrer ganzen Vielfalt wahrnimmt, während der gemeine Japaner damals wie heute nichts anderes als Kirschblüten gelten läßt.
Birnenblüten werden gemeinhin als reizlos abgetan; kaum jemand würdigt sie einer näheren Betrachtung, kein noch so unbedeutender Brief wird mit einem Birnenzweig verschickt.
Mitunter entschuldigt sich Sei Shonagon dafür, daß sie von der allgemeinen Meinung abweicht und damit die Leute vor den Kopf stoßen könnte. Sie wird dabei nicht an potentielle Leser gedacht haben, sondern an Gesprächspartner(innen), mit denen sie oft dieselben Themen erörterte wie in ihrem Buch.
Kunst statt Krieg, das war das Rezept der Heian-Gesellschaft, deren Hochblüte zu Beginn des Jahrtausends, als Sei Shonagon und Murasaki Shikibu schrieben, langsam zu Ende ging. Es galt nur für die höheren Schichten und beschränkte sich im wesentlichen auf Kyoto und Umgebung, ähnlich wie dies während der kulturellen Hochblüte Athens im 5. bis 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung der Fall war. In ihrer Mißachtung des werktätigen Volks ist Sei Shonagon ein Kind ihrer Zeit, nicht verwunderlich bei jemandem, der das höfische System voll und ganz in sich aufgesogen hat. Von dieser Einschränkung abgesehen ist die friedliche Existenzform, bei der den Akteuren manchmal langweilig wurde (auch davon berichtet das Kopfkissenbuch), durchaus beneidenswert, gesehen vom Standpunkt eines Menschen, der im 20. Jahrhundert aufgewachsen ist, als Gewalt, Krieg und kulturelle Trivialisierung vorherrschten. Wie in Murasaki Shikibus Erzählungen, die um die allseits bewunderte und begehrte Lichtgestalt des Prinzen Genji kreisen, sind Erotik und Ästhetik aufs engste miteinander verbunden, ja, gewissermaßen nur zwei Seiten derselben Medaille, die Sinnlichkeit heißt. Die Sinne zu verfeinern und zu erzählen, wie dies Tag für Tag geschieht, ist das eigentliche Anliegen des Kopfkissenbuchs. Das sieht dann zum Beispiel so aus:
Wohl gegen Mitternacht klopft jemand leise an die Tür, und diejenige unter den Zofen, die eingeweiht ist, eilt herbei. Sie weiß, was zu tun ist, und geleitet den Mann behutsam in ihrem Schatten, vor fremden Blicken geschützt, ins Gemach ihrer Herrin. Solch eine Szene ist wahrhaft elegant!
An der Seite der beiden Liebenden liegt eine geschmackvoll gearbeitete, wohlklingende Biwa, und in den Gesprächspausen spielt der Mann nicht laut, sondern zupft nur leise mit den Fingerspitzen einige Weisen, das ist das rechte höfische Gebaren!
Alle Sinne sollen entfaltet werden, der Gesichtssinn sowieso, aber auch der Tastsinn (Erotik), der Gehörs- und Geruchssinn (Musik, Vogelgesang, natürliche und künstliche Düfte...). Nur ein Sinn kommt zu kurz, sowohl im Kopfkissenbuch als auch im Genji Monogatari: der Geschmackssinn. Wirklich bemerkenswert, daß in beiden Büchern fast überhaupt kein Lob von Speisen, keine Beschreibungen von Festmahlen, keine Gespräche beim Essen wie in Platons Symposion zu finden sind. Heute ist das in Japan umgekehrt, die anderen Sinne sind dabei zu verkümmern, als Kompensation werfen die Leute ihre Libido aufs Essen, von etwas anderem – außer vielleicht von Baseball – ist überhaupt nicht mehr die Rede.
In der soeben zitierten Szene ist vom Schatten die Rede, und man spürt förmlich die knisternde Heimlichkeit, in der die Liebe ausgeübt wird. Sei Shonagon schildert vielfach das widerspruchsreiche Spiel des Sich-Verbergens und Sich-Zeigens, der Andeutungen und Entziehungen, der Lockung und der Sprödigkeit. Junichiro Tanizaki hat dieses Tun und Lassen im Halbschatten zur Essenz japanischer Ästhetik erklärt, wobei in Europa das Wort „Schatten“ vielleicht allzu sehr ins Zentrum des Verständnisses (oder der Vorstellung) gerückt wurde. In den altajapanischen Szenerien mit ihren ästhetischen Gegenständen und Personen herrscht durchaus nicht immer ein Dunkel. Die Begebenheiten vollziehen sich vielmehr in Abstufungen und Übergängen, die in der künstlerischen oder erzählerischen Darstellung betont werden, in Ahnungen und Andeutungen, in Verhüllungen, die immer irgend einen Makel, einen Durchlaß, eine undichte Stelle aufweisen, damit sie von den Erotikern und Ästhetikern aufgespürt werden kann. Ebenso erscheinen die Dinge, die Figuren: in Abstufungen, Übergängen, Andeutungen. Der eigentliche Vollzug wird, wie es sich gehört, ausgespart; die Phantasie darf ihn ergänzen.
Das Kopfkissenbuch ist vielerlei, nicht zuletzt aber ein Buch darüber, was sich gehört – anders gesagt: ein Benimmbuch. Tut jemand etwas, was nicht den Regeln, nicht der Etikette entspricht – oder einfach nur die höchstpersönlichen Erwartungen und Gewohnheiten Sei Shonagons enttäuscht –, so äußert die Autorin ihr Mißfallen, und zwar ohne jeden Besserungseifer, ohne pädadogische Absicht. Geschätzt und gefordert wird ein elegantes, schönes Verhalten, und die über der Stadt Kyoto, zwischen ihren Palästen und Tempeln schwebende Schönheit ist zu einem wesentlichen Teil jene Schönheit, die von der Rangordnung ausgeht und sich in Kleidung, Wagenausstattung, Reihenfolge des Auftretens, Gangart, Duft und Präsenz wiederholt. Chaos, Durcheinander, Sich-Vordrängen gehört sich nicht, es gibt der beschriebenen Szenerie einen unschönen Stich. Sei Shonagon ist gegenüber dieser hierarchisierten Gesellschaft voller Zustimmung, sie verhält sich dazu stets affirmativ, selbst dort noch, wo sie den Ansichten höhergestellter Personen widerspricht. Murasaki Shikibu hingegen findet im Verlauf der langwierigen Arbeit an ihrem Buch zu immer deutlicheren Worten, wenn es darum geht, den Machtmißbrauch der adeligen Männer und die Härten der hierarchischen Ordnung als das zu bezeichnen, was sie sind. Diese Verhältnisse erlauben es talentierten Männern und – vor allem – Frauen nicht, ihre Fähigkeiten zu verwirklichen und ein ihrer Persönlichkeit angemessenes Leben zu führen. Murasaki läßt Figuren auftreten, die sich darüber bitter beklagen.
Sei Shonagon hat Glück gehabt mit ihrer Kaiserin, der sie im Verbund mit zahlreichen anderen Hofdamen dienen darf, und sie hält mit ihrer Glückseligkeit nicht hinter dem Berg. Auch darin wirkt sie mädchenhaft, und man darf als später Leser an ihrem Glück getrost mitnaschen, auch wenn man kein Geschlechtsgenosse ist. Mädchenliteratur dieser Art könnte – unbeabsichtigt natürlich – der Erziehung des Männergeschlechts dienen. Ein bißchen mehr Spontaneität, Launenhaftigkeit, Sinn fürs Schöne, gutes Benehmen kann unsereinem nicht schaden. Auch die schräge Kombination von Rücksichtnahme auf die anderen und Selbstbewußtsein kennen wir (noch) nicht von uns selbst. Die Ordnung schätzen und trotzdem kein strenges Gehabe an den Tag legen: selbst Landsleute finden im altjapanischen Kopfkissenbuch etwas zu lernen.
P. S. An diesem Buch habe ich monatelang gelesen, täglich etwa zehn, zwanzig Minuten im Bett. Manchmal habe ich es auch, wie die Autorin selbst suggeriert, als Kissen verwendet. Der Verlag hat es dankenswerter Weise so gestaltet, daß es als bequeme Sitzunterlage verwendet werden kann. Es ist auch leicht abwaschbar, im Fall daß es durch Eßspuren verunreinigt wird. Dennoch ist das Lesen und Anschauen des Buchs vergnüglicher als das Sitzen oder Ruhen darauf. Daß ein Gutteil des Verdienstes an diesem Vergnügen dem Übersetzer zukommt, habe ich schon erwähnt. Die Erläuterungen, Kommentare und Register tun das Ihre, damit sich zum Wissen und Verständnis (für die Epoche, die Autorin, die fremde Kultur) zum Vergnügen gesellen. Ab und zu tun sie des Guten sogar etwas viel, denn man fragt sich, wozu man die lateinischen Namen sämtlicher im Buch vorkommender Blumen nachlesen soll. Wer dafür Interesse hat, kann sich dank seines Smartphones in Sekundenschnelle schlau machen. Handys hätten Sei Shonagon übrigens sicher gefallen. Besonders das hübsche Design japanischer Handys und das Zubehör, die Verzierung und Verpackung. Bedauern würde sie, daß mit der Einführung des Smartphones anstelle von älteren Handy-Typen die sogenannten straps aus der Mode gekommen sind, jene Anhängsel, Figürchen, Maskottchen, Symbole an Riemchen und Schnürchen, die jedes Mädchen, das auf sich hielt, und auch die hübschen Jungen (mit toupiertem kastanienbraunem Haar und tief hängender Krawatte) in großer Zahl an ihrem Kommunikationsgerät baumeln ließen. Bestimmt würden ihr die Anzeichen für das Aufkommen smartphonekonformer Ornamente nicht entgangen sein.
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