Kritik

Restwahrheit und Manipulation

Hamburg

Musikjournalismus muss erfinderisch sein. Denn über Musik zu reden ist wie zu Architektur zu tanzen, so behauptet ein Frank Zappa zugeschriebenes Bonmot nicht zu Unrecht. Tatsächlich ist das keine leichte Sache: Klänge in Worte fassen, Musik zur besseren Verständlichkeit für die Leserschaft in Kategorien einzutüten und auf der Gratwanderung zwischen Subjektivität und Objektivität mithilfe emotionaler, ästhetischer oder konzeptueller Parameter zu bewerten.

Musikjournalismus muss auch skeptisch sein. Post-moderne Praktiken sind immer noch en vogue. In den letzten Jahren tauchten vermehrt Projekte auf, von denen behauptet wurde, es stünden vergessene KünstlerInnen dahinter, deren Werk erst jetzt aus staubigen Archiven hervorgekramt wurde. Ursula Bogner war so eine Figur, angeblich eine Pharmazeutin, die sich neben Arbeit und Familie als Pionierin der elektronischen Musik und bildende Künstlerin betätigt haben soll. Dahinter steht, das ist mittlerweile sicher, eigentlich der Musikproduzent und Künstler Jan Jelinek.

Musikjournalismus darf aber auch fiktiv sein und selbst Skepsis hervorrufen. Der Prosaautor und Musikliebhaber Selim Özdogan hat für Edition 12 Farben des Literaturvereins rhein wörtlich 25 Rezensionen zu mehr oder weniger frei erfundenen Platten verfasst. Was wir hörten, als wir nach der Wahrheit suchten heißt der schmale, orangefarbene Band. Ein wenig Restwahrheit steht jedoch hinter den meisten der kurzen Besprechungen.

Obwohl die Namen frei erfunden sind und die Rezensionen aus den unterschiedlichen Perspektiven diverser ebenfalls fiktiver Personen geschrieben wurden: Die chronologisch angeordneten Texte spiegeln 25 Jahre Popgeschichte, Jahr für Jahr, von 1988 bis 2012. Das Aufkommen und Abebben von Genres, Hypes und Trends vollzieht sich ihnen. Dahinter stehen dementsprechend äußerst lebendige Vorbilder.

Die Besprechungen laden zum Rätselraten ein: Ist die Hardcore-Band Nobody Rules, deren »Platte klingt, als hätten Hüsker Dü zusammen mit den Stooges versucht ein Album zu machen, zu dem sich Skateboarder gut die Knochen brechen können« nach den zahllosen Projekten Ian Mackayes oder doch eher Black Flag zu Henry Rollins-Zeiten konzipiert? Hinter Adriens Blue verstecken sich eindeutig Massive Attack, deren erstes Album »Blue Lines« hieß, die ebenfalls 1994 ihren großen Durchbruch hatten und Trip Hop aus Bristol als Weltmarke etablierten. Nick D scheint dahingegen wie eine Chimäre aus Nick Cave, Tom Waits und Leonhard Cohen angelegt.

Neben diesen so vertraut wirkenden Erfindungen geht Özdogan aber auch auf weniger populäre Strömungen und exotischere Stile wie Fado, Vierte-Welt-Punk und anderes ein. Und auch dort hin, wo es wehtut. Die homophoben Aussagen des zwei Mal auftretenden Myrie Ranks – für den es im von konservativen Rastafari-Gedanken geprägten Dancehall leider mehr als nur ein Vorbild gibt – werden 1995 weitestgehend ignoriert und 2009 dann aufs Korn genommen und der Künstler erstaunlicherweise verteidigt. Jugendsünden, unterschwelliger Rassismus gegenüber dem Jamaikaner, das volle Programm.

Özdogan sucht reale Kontroversen in fiktiven Gegenständen. Warum nicht: Schließlich ist er Schriftsteller. Da tut sich der entscheidende Unterschied zwischen Musikjournalist und Literat auf: Wo der eine zwar erfinderisch, dabei aber möglichst wahrheitsgetreu sein sollte, da kann sich der andere hinter konstruierten Personen verschanzen und notfalls den eigenen Tod vortäuschen, sollte er für deren Handlungen und Aussagen belangt werden. Özdogan tut das zwar, indem er unterschiedliche Stimmen sprechen lässt, andererseits jedoch hätte ihn ein Verzicht auf solch heikle Themen unangreifbar gemacht. Die Strittigkeit ist gewollt und wird sorgsam konstruiert. Während sich die Besprechungen zu Platten aus den späten Achtzigern und Anfang der Neunziger noch nach emotional aufgeladener Fanzine-Schreibe lesen, wird der Ton zunehmend analytischer und die Themen brisanter. Die Leidenschaft geht den Besprechungen aber nicht ab.

»Kontakt, Nähe, nicht der Bruch und die daraus resultierende Distanz« habe ihn interessiert, schreibt Özdogan im den Rezensionen zur Seite gestellten poetologischen Essay »Alles ist aus Klang entstanden«. In diesem begründet der bilingual aufgewachsene Autor seine Liebe zur Sprache, die er »immer auch als Rhythmus, als Musik verstanden« habe. In der Literatur, vor allem der deutschsprachigen, sei davon aber wenig zu hören, eher schon bei US-amerikanischen Autoren wie Hunter S. Thompson, J. D. Salinger und Henry Miller und französischen wie Céline und Dijan. Sie hätten einen »Sound des Buches« geschaffen.

Der gelingt Özdogan über die 25 Rezensionen ebenfalls. Seine Sprache ist zwar verklärt und tatsächlich distanzlos, richtet sich häufig phrasenhaft an ein imaginäres Leser-Du, die Begeisterung über die ausgedachten Platten scheint aber echt. Was natürlich angesichts der hier und dort durchaus präsenten Stifterfiguren wieder prekär wird: Welches Ziel ist erreicht, wenn in einer Liebeserklärung an Massive Attack der Name von Band und Mitgliedern durch andere ersetzt werden? Damit all die, die die Band doch nicht kennen, die sich nach dem Lesen genau so eine Platte wünschen, sie etwa auch hören können? Insbesondere dort, wo die Begeisterung der Besprechungen sich in Schwärmerei auflöst, verklären sich Özdogans Absichten. Sind das alles nur Etüden mit dem Ziel, Begeisterung zu konstruieren, in Worte zu fassen und bei der Leserschaft zu entfachen?

Ironisch natürlich, dass Özdogan auch gleich einen Verriss zu seinem eigenen Buch mitgibt, Literaturkritik to go anbietet. In dem demontiert er sich selbst, wirft sich Narzissmus vor und urteilt: »die Unfähigkeit zu kritischem Abstand, die sich als Rezeptionsekstase aufbläht, mündet in Sympathie für homophobe und faschistoide Künstler«. Natürlich ist auch das irgendwie fiktiv und nimmt in seiner Direktheit zugleich jeglicher Kritik die Spitze. Das ist etwas, das Musikjournalismus wie auch Literatur unbedingt können müssen: Sie müssen ihre Leserschaft manipulieren können. Das lässt sich ein bisschen subtiler anstellen.

Selim Özdogan
Was wir hörten, als wir nach der Wahrheit suchten
rhein wörtlich e.V.
2013 · 108 Seiten · 12,00 Euro
ISBN:
978-3-943182-06-4

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