Ein Fenster in den Fernen Osten
Japan kennt keine Scherereien mit islamistisch radikalisierten Jugendlichen. Es gibt keine Problemviertel, in denen Hassprediger ihr Unwesen treiben und Gruppen von Zuwanderern gegen die Mehrheitsgesellschaft aufhetzen. Der in Europa so viel diskutierte Begriff Integration spielt in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle. Und trotzdem ist Japan kein Inselstaat der Seligen. Im Gegenteil: Die Herausforderungen, vor denen die japanische Gesellschaft steht, sind groß wie nie, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie wirklich angenommen werden. Denn obwohl die Bevölkerung seit Jahrzehnten rapide schrumpft, gibt es keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema Einwanderung.
Um wirklich zu verstehen, warum das so ist, genügt es nicht, sich allein mit Wirtschaftsberichten und Bevölkerungsstatistiken zu befassen. Wer ein wenig tiefer schürfen will, tut gut daran, die Romane Shūsaku Endōs zu lesen. 1923 geboren und kurz vor der Jahrtausendwende gestorben, gilt er als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Japans. Noch ist er hierzulande weitgehend unbekannt; allenfalls Cineasten führen seinen Namen derzeit im Munde, denn Martin Scorcese hat vor kurzem Endōs bekanntesten Roman, Schweigen verfilmt. In diesem Buch geht es um einen portugiesischen Missionar, der im späten 16. Jahrhundert nach Japan reist, um seinen verfolgten Glaubensbrüdern beizustehen. Denn nach über fünfzig Jahren erfolgreicher Mission war der Shogun, der oberste Kriegsherr, dazu übergegangen, die Christen grausam auszumerzen.
Ein weiteres Werk Endōs nun, Samurai, ist zeitlich kurz vor diesen schweren Verfolgungen angesiedelt. Zunächst beschreibt der Autor in karger Sprache das karge Leben eines kleinen Landedelmanns, der sein abgeschiedenes Tal, das ihm als Lehen zugeteilt worden ist, kaum jemals verlässt. Wiederholt wird Hasekura Rokuemon als „schwerzüngig“ beschrieben, als jemand, der nicht und nicht begreifen kann, warum er vom Ältestenrat seines Fürsten dazu ausersehen wird, einer Gesandtschaft anzugehören, die nach Nueva España geschickt werden soll. Dass es nur vorgeblich um die Anbahnung von Handelsbeziehungen zwischen Japan und den spanischen Kolonien in Südamerika geht, ist Rokuemon lange ebenso wenig klar wie dem Franziskanerpater Velasco, der der Unternehmung als Dolmetscher dienen soll. Der hochfahrende Spanier ist überzeugt davon, dass die Christenverfolgungen, die im Süden Japans bereits begonnen haben, durch das diplomatische Ungeschick der Jesuiten verursacht worden sind. Er stellt sich einen Handel mit dem obersten Fürsten des Nordens, von dessen Boden aus die Unternehmung starten soll, vor: Gewinnbringender Warenaustausch mit Südamerika gegen freie Missionstätigkeit. Angetrieben von seinem Ehrgeiz, dereinst Bischof von Japan zu werden, macht er durch seine Dolmetscherdienste den Bau eines hochseetüchtigen Schiffes, den in Japan gestrandete spanische Seeleute vorantreiben, erst möglich. Die offiziellen Abgesandten rund um Hasekura Rokuemon gedenkt der Missionar auf der Reise klug zu manipulieren. Dazu gehört natürlich auch, dass er sie zu Christen machen will.
Shūsaku Endō erzählt einmal aus Velascos, einmal aus Rokuemons Perspektive. Das gibt dem Roman eine tragende Grundspannung, die weit über die Fährnisse, die die Gesellschaft der Gesandten zu bestehen hat, hinausgeht. Die Überfahrt über den Pazifik, die gefährliche Landreise ins heutige Mexiko-Stadt werden scheinbar mit den Mitteln des Abenteuerromans erzählt, in Wirklichkeit geht es aber um viel mehr: Beide Hauptfiguren durchleiden einen langsamen Prozess der Desillusionierung. Rokuemon, weil ihm nach und nach klar wird, dass sein Fürst, dem er sein Leben lang treu gedient hat, ihn nur benutzt; Velasco, weil er seine eigene Hoffärtigkeit und seinen weltlichen Ehrgeiz in den Ränkespielen der spanischen Politik und der katholischen Kurie wiedererkennt. Denn der Vizekönig von Nueva España will nicht entscheiden, ob Beziehungen zwischen Japan und seinem Herrschaftsbereich aufgenommen werden können. Auf Drängen Velascos setzt die Gesandtschaft nach Spanien über, wo sie genauso im Unklaren gelassen wird – selbst als sich Rokuemon und seine Leute gegen ihre innere Überzeugung taufen lassen, um den Erfolg ihrer Mission nicht zu gefährden.
Schließlich gelangt die Gesandtschaft nach Rom. Velasco, dem nach und nach seine Dünkelhaftigkeit abhanden gekommen ist, begreift dort mit vernichtender Wucht, dass die katholische Kirche die japanischen Gläubigen im Stich lassen wird, dass diplomatische Bemühungen dem Vatikan längst wichtiger geworden sind als jener bedingungslose Zuspruch, den Jesus für die Armen und Geknechteten eingefordert hat. Und so sagt er sich innerlich von der Kirche los und entscheidet sich für einen Weg, der ihn ins Verderben führt.
Samurai ist kein Buch, in dem es viel zu lachen gibt. Es zeigt, wie einfache Menschen von der sogenannten hohen Politik benutzt werden. Herzbeklemmend die Passage, als Hasekura Rokuemon nach seiner Rückkehr in die finstere Burg seines Fürsten gerufen wird. Vollkommen abgezehrt von der vierjährigen Reise, wartet er darauf, vorgelassen zu werden und denkt sich:
„Ja, dies ist Japan: eine Wand mit Fenstern nicht größer als Schießscharten, um Ankömmlinge im Auge zu behalten, aber nicht, um in die weite Welt hinauszuschauen“.
Während Rokuemons Abwesenheit ist das Christentum auch in den nördlichen Provinzen verboten worden. Japan beginnt sich zu verschließen, sich von allen äußeren Einflüssen abzuschotten und eine Schießscharten-Mentalität aufzubauen, die es mehr als dreihundert Jahre später, während des zweiten Weltkriegs, dazu bringen wird, hochmütig über seine Nachbarländer herzufallen. Zwar öffnete sich das Inselland in der Nachkriegszeit kulturellen Strömungen aus dem Westen, anderen Einflüssen blieb die die japanische Gesellschaft aber weitgehend verschlossen. Allein schon weil Integration unter dieser Voraussetzung ein Fremdwort bleiben muss, gibt es kaum Zuwanderung – Zuwanderung, die zwar Probleme bringen mag, die aber auch die Chance zur Veränderung und zur Erneuerung in einer alternden Gesellschaft in sich trägt.
Zuletzt soll noch erwähnt werden, dass Samurai und Schweigen nicht bei einem großen deutschen Haus herausgekommen sind. Der ebenso kleine wie rührige Septime-Verlag aus Wien hat es auf sich genommen, mit diesen Romanen ein Fenster in den Fernen Osten zu öffnen, das viel, viel größer ist als die Schießscharten, die im obigen Zitat erwähnt worden sind.
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