Am Lebensfaden
Nicht mehr als 29 Gedichte umfaßt die erste Sammlung von Sonja Breker, doch diese geringe Zahl genügt, um aufmerken zu lassen. Kürze, Prägnanz und kalligraphische Konzentration charakterisieren diese Gedichte von der oft schmetterlingsleichten Anmutung chinesischer Formen der Poesie. In den besten Beispielen dieses Buches werden die Gegensätze harmonisch verschränkt, so daß man sie nicht mehr als solche wahrnimmt: das Spiel mit den Worten und die Ernsthaftigkeit, die nüchterne Kargheit und die emotionale Aufgeladenheit. Kleine und kleinste Einheiten fügen sich zu einem Geflecht semantischer Beziehungen zusammen, doch was leicht und so einfach scheint, ist das Resultat eines enormen Verdichtungsprozesses.
Bereits das erste Gedicht der Sammlung ist bei aller Schlichtheit in hohem Maße selbstreflexiv, indem es die formale Struktur zum alleinigen Inhalt des Gedichts erhebt:
Ich breche
Den Satz
Also
Ist es
Ein Gedicht
Das Gedicht, das auf diese Weise umgebrochen ist, verweist auf den Riß zwischen der äußeren Welt und ihrer Repräsentation in der Schrift, denn es bedarf des willentlichen Akts eines schreibenden Ich, das sich einer solchen existentiellen Trennung bewußt ist. Die Welt kommt nicht ins Gedicht, sie muß hineingeholt werden. Gedicht definiert sich dabei en passant als das, was in Zeilen aufgeteilt wird. Bereits im folgenden Text entsteht aus dem schieren Wortspiel eine Reflektion über das Sinnes-Organ der Beobachtung und Welterfassung, das Auge; sein „Apfel“, abendländisches Symbol der Erkenntnis, ist wiederum nicht ganz, nicht heil vielleicht auch, weil nämlich die Welt, dies andere Rund, ebenfalls nicht ganz oder vollständig ist, und die Frage auftaucht, ob es beschädigt oder bloß noch nicht ergänzt ist.
Eine Perle im Auge
Kein Apfel —
Die ganze Welt
Sagst du
Nirgendwo aber
Ist die Welt
Ganz
In Analogie zu Goethes sonnenhaftem Blick könnte man nun den Schluß ziehen, daß das Gesehene kostbar ist, weil es von etwas Kostbarem, der „Perle“ des Auges, wahrgenommen wird. Sehr angenehm fällt an dieser Stelle wie an anderen auf, daß die Gebrochenheit bei Breker zu keinem ironisch leerlaufenden Mechanismus wird. Sie zeigt vielmehr, wieviel Welt, trotz allem, die Poesie in wenigen Zeilen aufzunehmen imstande ist. „Die ganze Welt / Sagst du“ — spricht hier nun ein lyrisches Du (das heißt: ein Ich, das sich selbst anredet) das Weltganze aus, oder handelt es sich um Rede und Einrede, also: Du sagst zwar, die Welt sei ganz, aber nirgendwo ist sie es?
Die Zerbrechlichkeit der Sprache thematisiert Breker in immer neuen Anläufen, sie ist in Gefahr zu verstummen, sich des Sinnes zu entleeren, doch sie füllt sich beim Sprechen, beim Sehen, beim Laufen an einem Lebensfaden. Es ist nicht wichtig, daß man sich an Irrtümern entlanghagelt, es ist nur wichtig, daß man sich dessen bewußt wird. In kleinstem Rahmen ist das Gedicht eine Suchbewegung, eine Miniaturlupe, ein Aufruf zwischen den Zeilen zu lesen, zwischen ihnen die Welt zu finden, den eigenen Weg, einen ‚eigentlicheren’ Weg aus lauter Subtexten. Schön, wenn die Lyrik mehr zu denken gibt, als darin ausgesprochen ist. Darum erfreuen Sonja Brekers Gedichte und ermuntern dazu, die weitere Entwicklung dieser Autorin mit Spannung zu verfolgen.
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