Die Realität des Geistes
Eigentlich ist schon zu Beginn des Lesens abzusehen, dass diese Graphic Novel-Biographie über Edvard Munch ein wenig aus dem Ruder laufen wird. Ein Anfangsverdacht, der sich schnell bestätigt, was ein echter Glücksfall ist. Aber der Reihe nach: Im November 2005 besuchen die norwegischen Comiczeichner Jan Fiske, bekannt als Verfasser einer Comicbiografie über Kurt Schwitters, und Steffen Kverneland das Munch-Museum in Oslo. Mit einem Flachmann ausgestattet ziehen die beiden von Bild zu Bild und sind sich schnell einig: „Munch war radikal, Hardcore-Symbolist, psychedelischer New Age-Geistermaler“. In Kverneland wächst der Drang, den romantischen Biographien über Norwegens berühmtesten Maler etwas entgegenzusetzen. So entsteht die Idee zu einem Comic, dessen Grundprinzip die Collage von Originalzitaten und anderen Quellen sein soll. „Das wird garantiert ein paar Jahre dauern“, meint Fiske. Kverneland kontert: „Höchstens ein Jahr!“ 2013 ist es dann soweit.
Kvernelands Munch startet unkonventionell. Zwei Zeichner begeben sich auf Spurensuche um ein echtes Bild vom Nationalheiligtum ihres Landes zu bekommen. Dabei ziehen sie selbst als Figuren durch die Panels, kommentieren, ironisieren und feixen, was das Zeug hält. Und sie bedienen mehrfach das damals wie heute geltende Klischee des saufenden Skandinaviers und des verqueren Bohèmiens gleichermaßen. So nimmt der Künstlerstammstisch um Munch und Strindberg im legendären „Schwarzen Ferkel“ in Berlin einen unerlässlichen Teil des Comics ein. Gemeinsam trinken und streiten die Maler und Dichter sich in einen Rausch, der besonders bei Strindberg nicht selten zum Wahn wird. Da gibt es zum Beispiel die Anekdote mit seiner späteren Ehefrau Frida Uhl, die er am Morgen nach einer weinseligen Nacht mit nach Hause nahm. Als Strindberg aus seiner Benommenheit erwachte, überkam ihn beim Anblick der halbnackten Frida Ekel und Entsetzen. Der Dichter packte und würgte die Frau und schmiss sie kurzerhand aus dem Zimmer. Dass es sich dabei nicht um sein eigenes Zimmer handelte, bemerkte Strindberg gar nicht und schlief darauf wieder ein. Kverneland scheut sich nicht die Extreme, die ein Zusammenleben mit dem exzentrischen Schweden bedeuteten, in seinen Bildern darzustellen. Mit einem chaotisch wuchernden Turm aus Haaren, den tiefliegenden, schwarzumrandeten Augen und dem spitz zulaufenden Kinn wirkt er nicht nur in dieser Szene wie ein Höllengesandter.
Das ausufernde an Kvernelands Graphic Novel ist der Raum, den er den vermeintlichen Nebenfiguren einräumt, sodass der Protagonist Munch oft seitenweise gar nicht vorkommt. Diese Ausflüge dienen jedoch dem Verständnis darüber, in welchem geistigen Milieu Munch sich vor allem in Berlin aufhielt, mit welchen Ideen er konfrontiert wurde. Neben Strindberg ist hierbei vor allem der polnische Schriftsteller Stanisław Przybyszewski zu nennen, der als Mystiker und selbsternannter Satanist die Bilder des Norwegers als innere Visionen zu lesen versteht. Ein nicht unwesentlicher Punkt, wenn man bedenkt, dass Munchs frühe Ausstellungen in Kristiania (früherer Name Oslos) und Berlin Skandale auslöste, bei denen es immer wieder zu Handgreiflichkeiten unter den Besuchern kam. Kritisiert wurde dabei der Stil, der sich bewusst gegen einen naturalistischen Realismus richtete. Munch definiert sein künstlerisches Grundprinzip schon früh: „Ich male nicht, was ich sehe, sondern was ich gesehen habe.“ Mit der Abkehr vom äußeren Eindruck hin zum inneren Ausdruck wurde er zu einem maßgeblichen Wegbereiter des Expressionismus.
Es geht Kverneland mit dem Comic jedoch nicht allein um Künstlerisches und Kunsthistorisches. Aus dem Moment persönlicher Identifikation mit dem Maler heraus unternimmt der Zeichner auch den Versuch Munchs Familiengeschichte zu rekonstruieren. Kverneland lässt keinen Zweifel daran, dass sie der Schlüssel zum Verständnis von Munchs Kunstrevolution ist. Als Fünfjähriger verliert er seine Mutter, wenig später stirbt auch seine Schwester. Der Vater wird infolgedessen zum Melancholiker, der das innere Exil des Christentums sucht. Edvard selbst ist seit seiner Kindheit von Krankheiten gezeichnet und wird von den Ärzten mehrfach aufgegeben. Von dem bekannten wie geächteten Anarchisten Hans Jæger bekommt er den Rat sein eigenes Leben zu malen. Ein Rat, den Munch beherzigt. Kunstikonen wie „Madonna“, „Der Vampir“ und natürlich „Der Schrei“ sind seine Produkte. Und Kverneland erklärt, wie es zu genau diesen Motiven, diesen Farben kam. Dabei hält er sich konsequent an sein eigenes Arbeitsprinzip und seine Collage aus Originalzitaten bis zum Schluss aufrecht. Von nahezu jeder Anekdote erzählt er alle bekannten Versionen oder lässt Munch selbst das letzte Wort. Nur einmal imaginiert er ein Treffen zwischen Munch und dem Dichter Vilhelm Krag, das ausschlaggebend für die Entstehung des „Schrei“ gewesen sein soll. Man verzeiht Kverneland diese minimale Realitätsverschiebung, denn sie dient nicht nur der Dramaturgie seiner Erzählung, sondern geschieht sozusagen in Anlehnung an Munchs Stil. So wird Munch zu einer einzigartigen Biographie aus Originaldokumenten und einer Fülle von zeichnerischen Zitaten, eine persönliche Huldigung, die im höchsten Maße reflektiert ist.
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