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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Keine eigentümliche Adaption

Hamburg

Dass sich der anspruchsvolle Comic bzw. die anspruchsvolle Graphic Novel auch im deutschsprachigen Raum immer größerer Beliebtheit erfreut, ist keine neue Information mehr. Der Comicmarkt boomt regelrecht und wie immer wollen alle etwas vom Kuchen abhaben. In rascher Folge sollen und wollen Zeichner und Texter ihre Werke schaffen und veröffentlichen. Dabei scheint es ein besonderes Glück zu sein, dass hier auf einen gewaltigen Fundus weltliterarischer Klassiker zurückgegriffen werden kann. Längst gibt es zum Beispiel die Odyssee oder die göttliche Komödie als Bildergeschichte aufbereitet. Auch die Werke Franz Kafkas drängen sich in ihrer mitunter düsteren Bildlichkeit geradezu auf, ins Comicgenre übertragen zu werden. So geschehen jetzt durch den Franzosen Sylvain Ricard und seinen Zeichner Maël, die sich an keinem geringeren Text als „In der Strafkolonie“ versucht haben.

In der 1914, vor dem Hintergrund des gerade ausgebrochenen Ersten Weltkrieges, entstandenen Erzählung besichtigt ein Forschungsreisender eine tropische Kolonie um, einer ungewöhnlichen Exekution beizuwohnen. Ein „eigentümlicher Apparat“ schreibt dem Verurteilten seinen Schuldspruch mit vibrierenden Nadeln ins Fleisch, zwölf Stunden lang, bis der Verurteilte vor Erschöpfung stirbt. Das sadistische Verfahren, das noch aus der Zeit des alten Kommandanten stammt, findet unter der neuen Kommandantur kaum noch Anhänger. Einer der letzten Verfechter der mechanischen Hinrichtung ist ein Offizier, in dessen Obhut und Pflege sich die Maschine befindet. Mit einer besonders eindrucksvollen Beschreibung und Vorführung will er den Reisenden von seinem Apparat überzeugen. Vom Urteil eines Fachmannes verspricht sich der Offizier die Beibehaltung des Verfahrens. Als der Reisende sich jedoch gegen diese Hinrichtungspraxis ausspricht, sieht der Offizier keine Zukunft mehr. In einem gewaltigen Akt der Zerstörung richtet sich der Offizier mittels der Maschine schließlich selbst hin.

„In der Strafkolonie“ ist unter anderem aufgrund seines minutiös geschilderten Sadismus bis heute einer der wirkungsmächtigsten Texte Kafkas. Nie war der Prager Autor schonungsloser in der Schilderung von Brutalität, selten war er detailreicher in der Beschreibung mechanischer oder mechanisch wirkender Vorgänge. Dass Ricard und Maël sich ausgerechnet diesen Text gewählt haben, verwundert nicht. Was hingegen mehr als verwundert, ist die überaus eindimensionale Umsetzung der Erzählung, die bei Kafka neben einer Menge Schmerz und Blut noch wesentlich mehr zu bieten hat. Von der moralischen Ambivalenz der beiden Protagonisten erfährt man vom französischen Duo zum Beispiel nichts. Viel zu eindeutig wird hier der Reisende als „gut“, der Offizier als „böse“ charakterisiert, wenn man von einer Charakterisierung überhaupt sprechen kann. Mit einer solchen Schablonenhaftigkeit der Figuren hätte Kafka sich sicher nie zufrieden gegeben. Ebenso wenig mit der einfallslosen Umsetzung elementar wichtiger Sätze seines Textes. Wenn um die sechste Stunde der Delinquent beginnt sein Urteil mit seinem Leib zu erfahren, heißt es bei Kafka: „er spitzt den Mund, als horche er.“ Maël quittiert diese bewusst widersprüchliche Beschreibung mit einer plumpen Geste: der Offizier legt eine Hand an die Ohrmuschel.

Wer jetzt glaubt, dass derlei Beanstandungen kleinlich sind, verkennt Kafkas Handwerk in seinen Details. Dabei sind es nicht immer nur Details, die mangelhaft umgesetzt wurden. Das dialektische Rätsel um Schuld und Moral, das die „Strafkolonie“ ausmacht, funktioniert zu einem nicht unwesentlichen Teil über die Tatsache, dass der Reisende nicht eingreift, um den Offizier vor seiner eigenen Hinrichtung zu bewahren. Doch spätestens auf Seite 45 berauben Ricard und Maël der Geschichte dieser Ebene. Dort legt in einem Bild, deutlich zu sehen, der Reisende Hand an die Maschine und versucht sie zum Stillstand zu bringen! Ist das Hochverrat an Kafka? Mangelndes Textverständnis? Oder künstlerische Freiheit zugunsten einer Neuinterpretation? Letzteres sicher nicht. Denn eine Neuinterpretation kann ein Comic nicht sein, wenn er sich in geradezu pedantischer Weise an die Vorlage hält, um dann ihre wahre Tiefe nicht zu erfassen.

So ist Sylvain Ricard und Maëls Adaption von „In der Strafkolonie“ nicht viel mehr als ein ganz nettes Bilderbuch für Kafka-Liebhaber, das in seiner Umsetzung nicht überraschen kann. Das liegt in letzter Instanz auch am Zeichenstil Maëls, der vom Verlag als „expressiv“ angekündigt wird. In Wahrheit ist er aber ein leicht gebrochener Realismus, der handwerklich zwar perfekt ist, in seiner Unentschlossenheit zwischen klarer Linie und Verwischung jedoch kaum überzeugt.

Sylvain Ricard
In der Strafkolonie
Übersetzung:
Anja Kootz
Zeichnungen: Maël, Kolorierung: Albertine Ralenti
Knesebeck
2012 · 48 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-868734591

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