How to disappear completely
Pop ist überall, und zwar immer. Als Hintergrundrauschen im Kaufhaus. Als vermeintliche Verjüngungskur am Buchmarkt. Als Bestandteil des Alltagslebens und Darstellungsform der »technisch rekontextualisierte[n] Musik und somit jede[r] Musikform […], die einen ökonomisch rentablen Verbreitungsgrad erreichen kann«, oder eben – wie in dem von Thorsten Schüller und Sascha Seiler im Verlag Königshausen & Neumann herausgegebenen Buch Hidden Tracks – als kulturwissenschaftliches Phänomen, welches als Text auf Ästhetik und Historizität untersucht werden kann. Erscheint daher die Frage nach dem Verborgenen, Vergessenen und Verschwundenen in der Popmusik nicht verwunderlich, gar paradox, wenn es sich doch eigentlich um ein allgegenwärtiges Phänomen handelt?
Die Autoren des Buchs Hidden Tracks verstehen Popmusik als kulturelles Artefakt, das einerseits für Vergänglichkeit steht, andererseits aber bereits selbst im Zeitalter der eigenen Historisierung angekommen ist, »in dem gerade nicht das Vergängliche, sondern der Glaube an konservative Werte eine Rolle spielt«. Pop wird somit zum Zeitzeugen flüchtiger, sich überlagernder Trends, die vergessen, verbergen, verschwinden, weshalb es sich die Kulturwissenschaft zur Aufgabe gemacht hat, diesen Momenten nachzuforschen, um sie in einen größeren Kontext darzustellen und untersuchen zu können. Die einzelnen Untersuchungsschwerpunkte gliedern sich im Buch dabei wie folgt:
Die Künstler oder Photos of Ghosts
Der erste Teil rückt jene Künstler ins Scheinwerferlicht, denen Strategien der medialen Verweigerung, der Inszenierung von Identität und/oder der Abkehr von Autorschaft eigen sind. So macht sich etwa Jonas Engelmann auf die Suche nach dem amerikanischen Songwriter Jandek, der seit 1978 mehr als 50 Platten veröffentlichte und dennoch, aufgrund der »Verweigerung gegenüber einem Außen«, mehr oder weniger unbekannt geblieben ist. Diese Anonymität, so zeigt sich, »verwickelt den Hörer in ein verzwicktes Spiel um Sprecherpositionen und die Rolle der Kontextualisierung von Songinhalten, bzw. die Macht des Songwriters, die Rezeptionshaltung der Hörer zu beeinflussen.« Ähnlich verhält es sich bei PeterLicht, wie in Benjamin Sprechts Beitrag zu dessen Autorfiktion, Gegenwartskritik und Utopie aufgezeigt wird. Birgt das Bildverbot und die Abstinenz einer empirischen Biographie zunächst nur den »Schutz der Person vor ihrer popkulturellen Vermarktung«, gelingt PeterLicht – unabhängig von allen individuellen Bedingtheiten – dadurch auch eine hypothetische Positionierung innerhalb und außerhalb des Systems. Er wird zum Sprachrohr allgemeiner Wünsche und schafft so ein Identifikationsangebot, das »auch inhaltlich über das den Blick noch Verborgene, die Utopie in der Melancholie« weisen kann. Dass die Sprecherposition auch anders unterwandert wird, zeigt Till Huber in seinem Beitrag zu Holger Hiller, dem ehemaligen Sänger und Texter der Band Palais Schaumburg. Dieser negiert die eigene Autorschaft, indem er seine Rolle nur noch »in der Erschaffung eines aus bestehenden Versatzstücken angeordneten Assoziationsraums« sieht, und somit jegliche Sinnkonstitution einzig der Rezeptionsebene überlasst. Nicht die Lyrics und ihre Semantik sind bei Hiller demnach bedeutungstragend, sondern vielmehr der performative Akt, d.h. die Kommunikation zwischen Produktion und Rezeption. Auch in Jakob Christoph Hellers Beitrag zeigt sich am Beispiel der Band Die Tödliche Doris, wie Identitätsmodelle verunsichert werden können. Indem die »Identifikation einer Band als 'Band', wie auch […] die Identifizierbarkeit der vertretenen Personen« fragwürdig wird, eröffnet sich eine »Art von bloßer Leerstelle in der Möglichkeit des Diskurses und der Kommunikation«, die von allem besetzt werden kann, und somit mehr wird, als nur poststrukturalistische Spielerei.
Die Möglichkeiten des Mediums oder Vanishing Act
Das zweite Augenmerk des Buches liegt auf den inhaltlichen, wie auch auf den materiellen Möglichkeiten des Mediums. Magnus Wieland versucht in seinem Beitrag die Entwicklung der B-Seite als »Phänomen der Historizität, der Subversität und der Rarität« aufzuzeigen. Dabei zieht er Parallelen zwischen der Kulturgeschichte der Schrift- und der Tonaufzeichnung, die in ihrer Wirkmächtigkeit leider nur kurz aufgeworfen werden, und umfassender wohl den Beitragsrahmen gesprengt hätten. Jedoch zeigt sich am Beispiel der B-Seite, die aus ökonomischer Sicht eine rand- bzw. kehrseitige Stellung innehatte und deren Aufstieg zum Kultobjekt in eins fiel mit ihrem materiellen Niedergang, die Chance des »individuellen artistischen Ausdrucks«. Auch Ralf Dombrowskis und Andreas Schumanns Beitrag handelt vom Aufstieg und Fall bzw. Verschwinden. Durch wachsende Ansprüche, die in den 70ern »an das noch frische Phänomen Pop/Rockmusik herangetragen wurden«, suchten Musiker nach Legitimierung, nach »Überführung einer Subkultur in den Wertezusammenhang des gesellschaftlich Akzeptierten« und gelangten zum Konzeptalbum, das »Inhalt, Form und intendierte Rezeption […] als geschlossenes System« verstehen wollte. Nicht mehr das einzelne Lied sollte gelten, sondern die Platte sollte mittels kohärenten Erzählsträngen und musikalischer Motivik als Einheit verstanden werden, was schlussendlich jedoch in einen reaktiven Eskapismus führte, angesichts einer zunehmend als bedrohlich empfundenen Wirklichkeit.
Die Thematik bzw. Motivik in Songtexten oder Into the Unknown
Dass das Konzeptalbum nicht ganz verschwunden ist, zeigt Sascha Seiler im dritten Teil des Buches, in einem Beitrag zu Arcade Fires Album 'The Suburbs', das den Versuch unternimmt, Erinnerungen an einen Vorort Houstons zu verarbeiten. Anhand der Raum-Konzepte von Deleuze/ Guattari, Michel de Certeau und Marc Augé stellt Seiler das Erinnern des lyrischen Ichs als topographischen Prozess dar, welches sich in den Texten sowohl von den Gesetzen des Raumes als auch der Zeit löst. Während Seiler sich dabei gänzlich den verschiedenen Raum-Theorien zuwendet und diese einzig auf die Texte des Albums umlegt, sucht Jörg Pottbeckers hingegen nach der verborgenen Sexualität in den Texten Morrisseys, und gelangt – wie manch andere Beiträger des Buches – an den Punkt der Gleichsetzung von Erzähler und Autor. Erklärt Pottbeckers dies jedoch damit, dass Morrissey »regelrecht dazu [drängte], das lyrische Ich in seinen Texten mit der empirischen Person zu identifizieren«, bleibt es in manch anderen Beiträgen unkommentiert bzw. unreflektiert, wodurch teilweise der Interpretationsspielraum der einzelnen Autoren größer scheint, als der eigentlich wissenschaftliche Anspruch. Doch findet sich in dem Buch Hidden Tracks genug Verborgenes, Vergessenes und Verschwundenes, das es lohnt, gesucht, wieder hervorgeholt, ja überhaupt neu entdeckt zu werden.
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