Titus Meyer hat das längste...
Ja, das gibt es in der Welt: Ein 49 Seiten langes Palindrom. Es beginnt auf Seite sieben so
DNA-Beginn
ist Saft Sermon? Ego-Siesta? Och, er dressiert im Reden dies seidne, gesetzte Lettern-Unheil. DNA hege, Redner. Ei, Ton sagt's; er sei leider Aa hier. Der Plot stolpre. Denn er brütet. Lau zeidelt Türen er. O Kreuz-Rede der Eso-Lego-Lettern! Nistet's nun? O treuen Niemand erdnahe Gier belege. (...)
und endet auf Seite 56 mit folgendem Absatz (orientierungshalber: Das "G" in "erdnahe Gier" im obigen Absatz ist das Spiegelbild des "G", mit dem der untenstehende anfängt):
Geh, andre DNA, mein neuer Ton! Unstet-Sinn rette Loge. Lose Rede der zu Erkorene rüttle. Die zu alte Tür brenne. Der Plot stolpre. – Drei Haare die (lies Rest Gas!) notierende, rege Hand lieh. Nun rette letzte Segen dies seidne, (der Mitreisser-Dreh-Coat sei so Genomrest) fast sinnige Band.
Ja, das also gibt es in der Welt. Sieh an. Was machen wir nun damit, vom Staunen abgesehen? Wir könnten versuchen, den Text auf seinen Inhalt hin zu lesen. Dass der Rezensent bei diesem Unterfangen Gehirnschmerzen bekam (siehe obige Zitate), muss niemanden abschrecken: Es wird seine Richtigkeit haben, wenn das Kürzel "THC" mehrmals im Palindrom vorkommt (über das Praktikable der seltenen Buchstabenfolge "HC" hinaus, mit der sich, sagen wir, "ich tanz", "ich tu" und so weiter in der Spiegelwelt verstauen lassen) ...
Auf die Schnelle können wir auch feststellen, dass dieses DNA-Thema, von dem das Buch seinen Titel hat, schon einerseits die allerpassendste Zentralmetapher für ein Langpalindrom darstellt (von vorn wie von hinten gelesen bleibt der Code im Kern der Lebewesen, niederzuschreiben in Buchstabenform, gleich; kleine Veränderungen an der einen Stelle ziehen an unerwarteter anderer Stelle schwere Konsequenzen nach sich, ripple-effects treten auf), aber andererseits dem Verfasser eben auch eine weitere ungemein praktische Buchstabengruppierung zum Drehen und Wenden in die Hand gibt: Hand, Land, Rand, Band, Wand, Schmand etc.; auch lassen sich allerhand Worte unterbringen, die auf Na- beginnen. So haben wir denn gleich etwas über überraschende Eigenschaften unserer Muttersprache gelernt. Hurrah.
(Das erwähnte Hirnweh des Rezensenten nun, es hat inzwischen gekreisst und ein eigenes kleines Palindrom geboren: "E Bua, THC als Lachtaube!". .. Ja. Titus Meyer kann das besser.)
Man könnte auch erwähnen, dass dieses große Kuriosum des Titus Meyer einem kleineren Kuriosum folgt, das vor einem Jahr ebenfalls bei Reicke&Voß erschienen ist. Jenes hieß "Mein Buchstabeneuter Milchwuchtordnung", umfasste mehrere verschiedene kleinere Formen dessen, was so ungenügend "Sprachspiel" genannt wird, war lustig und hatte zuweilen den Charakter eines Rätselheftes: Zwar wurden in einem kleinen Anhang alle jeweils angewandten Methoden der Buchstaben- und Satzverdrehung, alle die "sehr strengen Formen" (Herausgeber Reinecke im Nachwort) aufgeschlüsselt, aber wenn man dort nicht nachschlagen wollte, brauchte man oft überraschend lange, um zu kapieren, was für eine Herausforderung sich Meyer jeweils gestellt haben mochte (Pangramm-Gedichte, pentavokalische Zeilen, doppelte Schüttlereime, Anagrammdrillinge, Vertikalpalindrom...).
Was als das "mechanische" dieser Anordnungen kritisiert werden kann, der neu erschienenen lagen wie jener älteren kurzen, bedeutet zugleich auch ihr In-Sich-Ruhen, ihr Desinteresse an "Aussage", an "Hinwendeung zur Welt", an z.B. einer "Debatte über das Verhältnis Verfasser-Text-Rezipient". Wir haben es mit Lyrik zu tun, die uns gerade deswegen "inhaltlich" überraschen kann und wird, weil ihr die Inhaltsebene mehr oder minder egal ist, bzw. eben ein weiterer Aspekt des je zu meisternden Kunststücks.
Ein wenig schade ist, dass die Spiegelachse, um die sich "Andere DNA" dreht – der mittlere Buchstabe bzw. das mittlere Buchstabenpaar – im Band nicht markiert ist. Zu gern hätte man, statt von ganz vorn und ganz hinten - eh klar, zugleich - zu lesen zu beginnen, aus der Mitte heraus, entlang jener Achse, die Entwicklung des Palindroms in einer Größenordnung verfolgt, die das eigene, arme Gehirn nicht überfordert haben würde.
Als Leistungsschau ist "Andere DNA" unbedingt zu empfehlen. Der Leser wird, wenn er das Büchlein aufschlägt, selber entscheiden müssen, ob er da bloß Zeuge einer so prächtigen wie letztlich bedeutungsleeren Zirkusnummer wird, oder ob er dem schieren in-der-Welt-Sein eines solchen Texts bereits Bedeutung zubilligt – eines Texts, der immerhin regelmässig von sich behauptet, sich um
DNA? It's a' bessre DNA!
zu drehen (also: "Anders, Sebastian. D..."), dessen manifeste Eigengesetzlichkeiten aber von alltäglicher Semantik so weit weg sind wie die Physik der vier Aminosäuren von den höheren Funktionen komplexer Organismen.
Ich denke mir "Andere DNA" am wertvollsten für den Gebrauch an Schulen, als Nuß, die man Oberstufenschülern zu knacken gebe – nur den Text, nicht die Erklärung "Palindrom". Bis sie die Antwort haben, werden sich solche Leser wohl durch mehrere Schichten inhaltlicher Lesart graben, sich in Interpretation von syntagmatisch Aussergwöhnlichem üben und produktiv verwirrt sein.
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