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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Anhaltspunkte und Aussichten gehören zusammen

Aphoristiker, so imaginiert man gemeinhin und denkt vielleicht an gepuderte Salonmenschen wie den Duc De La Rochefoucauld, müßten eigentlich weiße, oder zumindest graue Haare haben, Pfeife rauchen und mit einem milden Lächeln auf den alten Lippen an einem Kaffeehaustisch ihre Notate über Sinn und Unsinn der Welt in ein ledergebundenes Büchlein kritzeln. Tobias Grüterich entspricht dieser Vorstellung nicht. Als erst knapp über 30-jährigem gelingt es ihm viele Attribute, die man der Jugend zuspricht, in seine Texte zu retten. Das ist forsch und bezieht klar Stellung, gibt frische Impulse. Es ist nicht abgeklärt und altersweise (was bei Sinnsprüchen ja oft den Geschmack des großmütigen Verstehens und milden Verzeihens mit auftischt), sondern immer noch trotzig. Es ist unversöhnt und nicht ausgerechnet. Es hat Überblick, aber auch die Detailsicherheit eines Beobachters, der noch im kleinen Übel das eigentlich Schlimme und sein wirkliches Ausmaß entdeckt. Es redet unverbildet Klartext und besucht auch unterbelichtete Zonen. Und es ist einfach gut geschrieben. Ein wirklich lesenswertes Buch des jungen Chemnitzers, der nicht von ungefähr gleich zweimal den Preis des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen erhielt.

Weniger seine Notate, als seine äußerst knappen und konzentrierten Aphorismen haben es ins sich:

Intoleranz äußert sich weniger im Schimpfen als im argwöhnischen Zuschauen.

Immer wenn sie nichts sagt, hört er nicht hin.

Lügner wissen, wie man die Wahrheit richtig sagt.

Wer mit sich selbst hart ins Gericht geht, wird von den anderen dafür verurteilt.

„Was sich in vielen von Tobias Grüterichs Aphorismen Bahn bricht, ist echter Zorn. Und wie jeder echter Zorn speist sich auch dieser aus Idealismus: aus der Unmöglichkeit seinen Frieden mit einer Zivilisation zu machen, die so drastisch unter ihren Möglichkeiten bleibt und sich gleichzeitig gebärdet, als gäbe es kein Morgen.“, schreibt Helge Pfannenschmidt, der das Buch in der immer beachtenswerter werdenden Edition Azur herausgegeben hat, treffend in seinem Nachwort – wer wollte nicht zornig sein angesichts des Widersinns, der in unserer Welt überall hineingeknotet ist; sofern er in der Lage ist hinzusehen, die verflochtenen Strukturen in Einzelfäden aufzulösen und genauer zu analysieren. Und das macht Tobias Grüterich sehr gut. Wie jeder guter Aphoristiker lässt er sich dabei von den Geschenken der Sprache inspirieren und verschenkt nun selber Inspiration. In neun Kapitel sind seine Sprüche und Notizen thematisch sortiert. Neben dem Wortspiel und dem Innengang, neben menschlich Allzumenschlichem und Erkenntnistheoretischem widmet sich Grüterich auch der Politik und so kriegt auch die kapitalistische Marktwirtschaft ihr Fett weg.

Seit Erfindung der Freiheit herrscht unter Sklaven Wettbewerb.

Die Reichen verschanzen sich hinter hohen Mauern. Die Armen vertrauen ihren Feinden.

Was früher selbstverständlich war, ist heute eine Dienstleistung.

Wettbewerb: gut, besser, Bestie.

Immer klarer wird, daß wir uns in einer fast nur noch menschengemachten, von uns selbst erzeugten Umwelt bewegen, in einer Art und Weise, die wir zum allergrößten Teil selbst gewählt haben. Das Automobil Mensch knattert durch die Zeit gerade so, wie es das selbst will. Daß wir Verantwortung für uns selbst haben und übernehmen sollten, uns aber gehen lassen und der Einfachheit halber auf ziemlich billige Werte setzen, weil es eben gut geht (nicht mehr lange, aber so lange es geht, geht’s) – genau das in der täglichen Betrachtung der Welt immer wieder intensiv zu erfahren und in der Sprache aufzuzeichnen, das macht natürlich zornig und wir brauchen auch genau diesen Zorn. Um einem anderen, der sich tagtäglich in den Menschen anstaut, zu begegnen und der sich so gern in Sündenbockmechanismen entlädt und nicht nur deshalb einem Pulverfaß gleicht. Wir brauchen wieder weithin vernehmbares schriftstellerisches und intellektuelles Aufbegehren . Das Land ist in der Krise und längst ist es die ganze Welt.

Tobias Grüterich macht uns vor, daß man sowohl Innenschau halten, als auch sich im Klaren über die politischen Verhältnisse sein kann. Grundlage für dieses Vertrautsein mit unserer Welt und allen möglichen Welten ist ein Vertrautsein mit dem Funktionieren unserer Größe Geist. Unser Erkenntnisapparat ist direkt an unsere Sprache gekoppelt, so daß der Zweifel, der artikulierte, ausgesprochene Zweifel die Grundvoraussetzung für jede Wahrheit ist. Nur er kann das Gewohnte, das zur Routine verkommene Wissen als ein Strickmuster entlarven, als eine von uns zugefügte „Be-deutung“. „Setzt sich die Bedeutung, erhebt sich der Sinn.“ – ein Aphorismus von Elazar Benyoëtz, über den Tobias Grüterich andernorts einen ausgezeichneten Aufsatz geschrieben hat und der sehr viel von dem enthält, um was es dem Aphoristiker (und n.m.M. streckenweise auch dem Dichter) heute gehen muß – tief in die Sprache eintauchen und jene Hüllen beleuchten, die man einzelnen Begriffen während ihrer Instrumentalisierung verpasst hat. Es gilt das Anhaftende vom Wesentlichen zu trennen, harte Kerne aufzuspüren. Die Hüllen sind Überzüge, die wir in der Zeit nach der ersten und ursprünglichen Konfrontation mit dem wirklichen Sinn (als der überhaupt erfahrbahren Fraktion des Weltgeschehens) auf diesem hinterlassen haben. Wer in der Sprache zurückfindet, sieht klarer auch den Weg, den wir im Ganzen zurückgelegt haben und ob dieser noch zu tun hat mit uns und unseren menschlichen Möglichkeiten.

Wir sollten uns noch einmal sehr genau umschauen, wo wir sind. Wahrscheinlich finden wir dann Anhaltspunkte, wohin es mit dem Menschen wirklich gehen kann oder sollte. Genau das tut Tobias Grüterich. Das Finden einer Aussicht geht nur von einem aufgeklärten Standpunkt aus. Und der ist gewiß keine Frage des Alters.

Tobias Grüterich
Harte Kerne
Edition Azur
2009 · 140 Seiten · 14,00 Euro
ISBN:
978-3-981280418

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