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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Freiheitliche Erzähltheorie

Dieses Büchlein ist vor allem etwas für Interessenten kulturphilosphischer Diskurstheorien: Mit gut hundert Seiten ist es weniger ein praktisches Handbuch für Schreibende als vielmehr ein vielschichtiger Lang-Essay mit interessanten Gedankengängen und Vorschlägen zu dem legitimen Wunsch, den marktgängigen Erzählmustern der Medienindustrie zu entkommen. Denn Hülswitt bewertet die üblichen „aristotelischen“, „Hollywood-mäßigen“ Kausalerzählungen (mit Anfang, Entwicklung, Katastrophe und Lösung etc.) als geistig einengende, bedrohliche Monokultur, die auf gefährliche (unmerkliche) Weise unser Denken und unser Selbstbild prägt, sodass wir inzwischen sogar uns selbst und unser Leben nach solchen Mustern bewerten und ausrichten („Richtig lebt, wer dramatisch lebt…“ S. 65). Dagegen setzte Hülswitt die Denkweise und „Metapher des nonlinearen Erzählens“, die besagt „… dass so, wie jede ihrer Erzähleinheiten an sich ihren Wert hat, ohne ihn erst durch den Dienst des Hinleitens und Sich-Herleitenlassens verdienen zu müssen, jeder Mensch und jedes Ding in der Welt an sich seinen Wert besitzt …“; sie stellt stattdessen die „…Beobachtung über Urteil und Handlungsimpuls“ (S. 22). Adäquat zum klassischen Habermaßschen „herrschschaftsfreien Diskurs“ sucht Hülswitt mit seinem anregenden Essay also nach Möglichkeiten „herrschaftsfreien Erzählens“.

Als eine denkbare Alternative stellt er das von Florian Thalhofer entwickelte Korsakow System vor, einem vom psychotischen Korsakow Syndrom inspirierten narrativen Verfahren ohne chronologischem Gerüst und ohne fixierten Erzähler, das bislang vor allem bei speziellen Filmen und Veranstaltungen Anwendung findet. Hülswitt selbst praktiziert dieses Modell gemeinsam mit Thalhofer und anderen Autoren in so genannten Korsakow Shows. Das Verfahren verfolgt die Idee, eine quasi-demokratische, interaktive und nicht-chronologische Kommunikationsweise zu generieren, die keinen dominanten Wortführer braucht, deren inhaltliche Beiträge gewissermaßen als cloud ohne aristotelische Handlungsdramaturgie entstehen und somit eine kollektive Autorschaft aller Beteiligten ermöglicht. Dabei wird zu einem vorgegebenen Diskursthema ein Fundus an Erzähleinheiten (Filme, Textstatements, Bilder etc.) mit verschiedenen Autoren und Dialogpartnern vorbereitet, die dann vom Publikum und diversen Experten gemeinsam live abgerufen und diskutiert werden können. Womit man anfängt und wo man aufhört, ergibt sich mit jeder Aufarbeitung aus dem Verhalten der Mitwirkenden neu – trotz gleichen Ausgangsmaterials gleicht so keine Ausführung der andern. (Details siehe Buch...)

Diese originelle Präsentationsform wird für bestimmte kollektive Diskurse ganz sicher neuartig und produktiv sein. Im Grund erinnert sie aber an diverse bisherige Versuche basisdemokratischer Bewegungen, kollektive, vermeintlich „herrschaftsfreie“ Kommunikationsformen zu entwickeln. Auch wenn die Theorie des Korsakow Verfahrens sich mit akademischen Fachkürzeln wie SNU (für „smallest narrative unity“), POC („point of contact“) oder „KEY“ (für Schlüsselwort) und „Konzipient“ („Mitgestalter“ statt des passiven „Rezipienten“)  präsentiert, so hinterlässt Hülswitts Text in dieser Hinsicht doch den Eindruck, dass es sich um eine anregende, aber etwas schwammige Konstruktion handelt, die weniger neu und gleichberechtigt strukturiert ist, als ihre Schöpfer hoffen.  Das ist kein echtes Problem, so lange die Praxis geistig anregend funktioniert. Nur hat die Erfahrung der letzten Jahrzehnte mit ähnlichen Verfahren (z.B. Robert Jungks „Zukunftswerkstatt“ etc. pp.) gezeigt, dass etliche sympathische Theorien und denkbare Ansätze eher seminaristische Moden bleiben und dank der real-praktischen Verhaltensweisen der Mitwirkenden recht bald wieder verblassen (oder gar einige Jahre später in den Motivationsschulungen für „höhere“ Manager und andere „Kreative“ enden). Als praktisches Muster für literarische Autoren ist dieses Verfahren jedenfalls kaum geeignet. Doch das von Hülswitt favorisierte Korsakow System ist ja beileibe nicht alternativlos: Hat doch vor allem das Internet in den letzten zwanzig Jahren eine enorme Diversität an hochwirksamen nonlineare Erzählsystemen von immenser gesellschaftlicher Wirkkraft hervorgebracht. Diese werden bei Hülswitt zwar erwähnt, aber leider nur äußerst ansatzweise betrachtet und würdigt. (Bei  seiner Beschreibung des Korsakow Systems kommt zudem zu einer überganglosen Vermengung visueller und textueller Erzählformen: Als Beispiele verwendet er unterschiedslos Filme, Drehbücher oder, seltener, literarische Texte – die sehr unterschiedlichen Konditionen dieser Medien werden nicht einmal diskutiert.)

Sobald Hülswitt sich jedoch allgemeinen Überlegungen zum nonlinearen Erzählen zuwendet, wie es glücklicherweise das ganze Buch über geschieht, wird sein Text anregend und quicklebendig. Offensichtlich wird die politische Dimension seines Ansatzes: Wer die uns umgebenden und oft genug auch unbewusst dominierenden Erzählstrukturen erkennen und bewerten kann - ganz gleich, ob in den Medien, der Politik oder der Religion - gewinnt ein höheres Maß an Selbstbestimmung. Hierzu durchstreift das Buch eine bemerkenswerte Fülle interessanter Beispielen von Popkultur bis Zeitgeschichte und analysiert die kommunikativen Grundmuster der uns beherrschenden Diskurse zwischen Ökonomie, Psychologie und Ästhetik, um über erzählerische Emanzipation und damit auch über selbstbestimmte menschliche Identität nachzudenken.

Was in Hülswitts Buch gänzlich fehlt (wenn man den Titel ernstnimmt), sind praktische Anregungen für nonlineares Erzählen im literarischen Sinne oder auch ein paar ausführlichere Hinweise auf die vielfältigen praktischen Ansätze nonlinearen Erzählens aus der jüngeren Literaturgeschichte, von, sagen wir, den „Hunderttausend Milliarden Gedichten“ des Surrealisten Raymond Queneau über den Maßstäbe setzenden „Ulysses“ von  Joyce (der mit einem Zitat von Umberto Eco immerhin kurz erwähnt wird) bis hin zum deutschen Meister des nonlinearen Erzählens, Arno Schmidt. Überhaupt muss man den Eindruck gewinnen, dass, wenn Hülswitt über die von ihm favorisierte Art des Erzählens spricht, er etwas vermisst und anstrebt, was die moderne Lyrik ihrem Wesen nach doch längst in großer Breite hervorbringt:  Wunderbar wirksame, nonkausale, inkohärente, polychrome Texte ohne festes Erzähl- und Figurenensemble - mit disparaten Themen und Diskursebenen und kleinesten Erzähleinheiten, die auch unabhängig voneinander gelesen und interpretiert werden können… Im Zusammenspiel mit dem Internet ist daraus in den letzten Jahren ein atemberaubend vielfältiger „nonlinearer Diskurskörper“ planetar-poetischen Ausmaßes entstanden. Dass Hülswitt darauf nicht kommt, mag auch daran liegen, dass er unter „Erzählung“ unausgesprochen etwas soziologisch Diskursives versteht, eine Art kollektiven Meta-Diskurs, weniger ein literarisches Verfahren für Textautoren. Hülwitt selbst bekennt sich jedoch in einem abschließenden Kapitel zu den Brüchen, Widersprüchen und offenen Fragen seines Buches und betont, dass es ihm fernliegt, eine geschlossene Theorie liefern zu wollen (was seinem Ansatz ja auch überzeugend entspricht). Sein Plädoyer für die Schaffung neuer, nonlinearer Erzählformen ist nach Lektüre des Buches in jedem Fall gut begründet und erscheint, selbst wenn man im Detail nicht alle Ansichten des Autors teilt, geradezu notwendig.

Hülswitts Essay hinterfragt auf überzeugende Weise eingefahrene Denkmuster und verleitet zum Weiterdenken. Was die essayistische Gedankengänge zwischen Psychologie, Soziologie, Filmtheorie und Dramenkunde zudem lesenswert macht, ist die klug erläuterte Grundthese, dass menschliche Identität aus dem Erzählen entsteht:  Die Einladung, eigene, „nichtaristotelische“ Erzählmuster zu entwickeln, trifft einen zu wenig beachteten (und bedachten) Nerv des Medienzeitalters. Hülswitts Beobachtungen sind eine intensiven Diskussion wert. Leider in unbequem kleinen Lettern gesetzt, liegt sein geistig gewichtiges Büchlein leicht wie eine Broschüre in der Hand, doch die solide Bindung erlaubt ein handfestes Arbeiten damit. Das dürfte ganz in Hülswitts Sinne sein.

Tobias Hülswitt
Handbuch des Nonlinearen Erzählens
Edition Pæchterhaus
2011 · 112 Seiten · 8,00 Euro
ISBN:
978-3-941392205

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