Ich schreie in das leere Haus
Klar, Bresemann und Berlin, das gehört zusammen. Aber wo im Berliner Fenster (Berlin Verlag 2011) die Zeilen noch weitestgehend ordentlich gebunden waren, geht es nun doch nochmal eine Spur wilder zu: Das lyrische Ich stellt Fragen, die es sich im selben Atemzug beantwortet, mal kursiv hervorgehoben, mal in Klammern, mal springen die Absätze von links nach rechts, Groß- und Kleinschreibung wechseln sich ab, Durchstreichungen, Schimpfwörter sprengen den Text – man meint, dieser Autor könnte kaum an sich halten mit dem, was er zu sagen hat.
Dass das alles ein Konzept hat und sehr genau gearbeitet ist, verdeutlicht der Blick in den Anmerkungsapparat: Hier gibt Bresemann Quellen an, von Luther bis zu Angela Merkel, von Arbeiterliedern bis zu Interviewfragen an den ehemaligen NPD-Chef Holger Apfel; im Textteil liest sich das dann so („die schuld dem fleische“): „wenn die schönen wesen zur 13. stunde/erscheinen, werden sie den menschen/endlich sagen, dass sie ein nazi sind?“
Die hässlichen Seiten des deutschen Alltags – Abraumhalden, Boutiqueneingänge, Hohenschönhausener Plattenbauten – sind Tom Bresemanns Spezialität. Was einen in Wohnen und Arbeiten im Denkmal darüber hinaus immer kalt erwischt, sind geschichtliche Flashbacks zu FDJ- und Nazivergangenheit, aber auch zu einer gewissen Tante Ilse, in deren Zimmer eines der ersten Gedichte spielt. Es scheint dies ein Raum zu sein, der in unmittelbarem Bezug zur Sprechhaltung des lyrischen Ichs zu stehen scheint: „wer war zuletzt/in tante ilses zimmer?/die zornigen zeichen.“
Heftig ist das schon, aber nie ballastartig: Dafür ist Bresemann viel zu geschickt im Unterbringen seiner zahlreichen Anspielungen, die in den schnell konsumierbaren Gedichten oft nur kurz aufscheinen, dafür aber umso nachhaltiger wirken und ihre Widerhaken setzen. Der Stadtpark wird mit der Occupy-Bewegung kurzgeschlossen, Briefe an die Hausverwaltung mit Online-Petitionen, Gentrifizierungs-Erscheinungen in Kreuzberg mit Ton-Steine-Scherben-Songs, aktuell, hellwach, scharfsinnig.
Gesondert verwiesen sei an dieser Stelle noch auf das letzte Kapitel die große Schrift, die kleine Schrift, die schöne Schrift, die saubere Schrift, in dem Bresemann laut eigener Aussage ein Gedicht wiedergibt, dass er zwischen 1987 und 1989 im Deutsch-Unterricht geschrieben hat. Tatsächlich besteht es aus Schreibübungen des etwa Zehnjährigen, ebenfalls findet sich dort jedoch das „Lied vom Reif“ von Matthias Claudius („Seht meine lieben Bäume an“), das auf der folgenden Seite mit den möglicherweise ersten lyrischen Versuchen des Schülers kommentiert wird:
Ich schreie in den Wald. Ich
schreie in den Tunnel. Ich schreie
in das leere Haus.Ich schrie in den Wald. Ich schrie in
den Tunnel. Ich schrie in das leere
Haus.
Es könnte kaum einen schöneren Beleg für Tom Bresemanns krass anti-idyllische Haltung geben als diese frühen Zeugnisse des eigenen Schreibens.
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