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Kritik

Reise und Gedächtnis

Hamburg

Nach Lichtveränderung und Das Wunder von Sadagora hat Tom Schulz den dritten Einzelband in Folge in ebenso vielen Jahren veröffentlicht. Die Verlegung der Stolpersteine erscheint bei Hanser Berlin, wie zuvor auch die Lichtveränderung. Trotz des hohen Veröffentlichungstempos ist auch diesem Band kein gehetztes Schreiben anzumerken. Im Gegenteil: Der in sieben Abschnitte, Pro- und Epilog aufgeteilte Band beschäftigt sich anspruchsvoll, ruhig und formal vielgestaltig mit der Vergangenheit, mit dem Erinnern von Zeit und Zeiten. Was naturgemäß subjektiv und bruchstückhaft ist, wird von Schulz in eine adäquate Form transponiert und aufgeboten, indem u.a. schon die römischen Ziffern der Abschnittsnummerierung Lücken aufweisen: I bis VII, (aber wo sind VIII, IX… etc.?), denn dann kommt schon die XX als Epilog. In dem gleichnamigen Stolperstein-Abschnitt ist die Reihenfolge der Steine durcheinander geraten. Zeit ist nicht gleich Zeit.

Das Cover des, wie gewohnt bei Hanser Berlin, aus hochwertigem Material hergestellten Bandes zeigt einen etwas irritierenden Haufen Tafelsilber (ein Stolperer?). Dabei geht es eigentlich, rein örtlich gesehen, bei Schulz‘ Gedichten weniger um Privates wie Besitz, Innenräume etc. als um öffentliche Orte und das Bereisen von ihnen. An ihren Namen kann der (Schreib-) Aufenthalt des Dichters abgelesen werden: Sasel, Diebsteich aus der Nähe des Wewelsflether Residenzstipendiums, Hausach gemäß LeseLenz, auch Edenkoben kommt vor. Dazu Impressionen aus Litauen, Mexiko, Griechenland und der Oberlausitz. Fast ein Lyrisches Reisebuch kann man sagen. Dabei wechseln die Gedichte beständig ihre Formen. Von Prosagedichten zu Kurzversen, tradierten Strophenformen zu Freien Versen. Das Konzept des Stolpersteins, bekannt aus städtisch-mahnenden Interventionen auf Fußwegen (man wird zum hoppla gebracht und an einer bestimmten Stelle aus seinem möglicherweise ahnungslosen oder mit Verdrängung beschäftigten Bewusstsein gerissen), überträgt Schulz auf das Gros seiner Gedichte. So werden die lyrischen Reiseaufzeichnungen niemals zu einem bloßen Abfeiern der örtlichen Idylle, sondern vielmehr zu einem Versuch, sie zu Horten auch dunkler Erinnerung zu machen. In einigen Gedichten wie Buchenweimar, Prager Straße oder Die Menschenfabrik in expliziter Deutlichkeit.

Geschichte als wachsende Steine kommt als zentrales Bild in dem Band häufig vor, als empathische Präsenz, ganz im Gegenentwurf zu aktuellen politischen Bewegungen, die so tun, als hätte es Geschichte nie gegeben. Tom Schulz‘ Lyrik verfolgt das Anliegen, Orte und Erinnerung zu einer Einheit zu verdichten. Es gelingt ihm unter anderem auch deswegen, weil er das öffentliche Erinnern und das subjektive Erinnern (auch der eigenen Kindheit) zu gleichen Teilen zur Sprache kommen lässt. So ist weniger von einem Lyrischen Ich die Rede als vielmehr von einem Lyrischen Wir, das sich in versierter Rhythmik und starker dichterischer Sprache/ Wortwahl mit den ortsimmanenten Themen auseinandersetzt. Große Überraschungen oder Ausbrüche in Dekonstruierendes oder gewagtes Terrain bleiben bei Schulz aus. Es genügt ihm die inhaltliche Konzentriertheit und sein großes formales Repertoire. Eine Vorliebe für Spiele auf engem Raum fällt auf, wenn Wort und Assoziationspaarungen gebildet werden wie „Jenseits von Edenkoben“, „Eine Ewigkeit warteten wir auf Godot“ (vor dem Kulturpalast), „Die Elbe/ von allen guten Wassern verlassen“, „zu den Buchen/ zu den Büchern“ u.a. Diese machen die Gedichte schnell an den jeweiligen Stellen – kein Stolpern, sondern Abheben und (Los-) Fliegen, bis eine ruhige Region wieder übernimmt.

Die Verlegung der Stolpersteine hat Substanz und ist ein Werk des Dichters auf der Höhe seines Schaffens. Tom Schulz hat seinen Ausdruck gefunden und kultiviert ihn weiter. Der neue Band macht in seinem klugen inhaltlichen Arrangement klar, dass er und sein Thema eigentlich nie zu Ende sein können, sondern fortgeschrieben sein will, wachsen will wie die Steine, die er beschwört.

Aus Heraklits Tablet

Wie sich das Gras wieder aufrichtete
wie der Wind es umspielte, als hätte er Streichholzfinger
und die von Gott unverdunkelte Sonne

Die Körper beschrieb, so schrie
das Maultier halbstündlich
mit Gold an den Hufen beschlagen

Im Amphitheater spielen die Jungen
die Tragödien sind fortgezogen
die Bänke leer, die Reihen

Versehen mit Kieseln und Schluff
bis der kleine Ronaldo mit Nummer sieben
den Ball an der Sonne vorbei schießt

[…]“

Aus Jenseits von Edenkoben

„[…]

II
Wer an den Wind anbaute oder das Wasser, lebte fort
wir kannten den Quell-Ort, doch nicht die Stimme
des Windes, das Wasser – wer immer hier anbaute
verlor sich an den Mergel, das Gestein, fruchtbar
und langmütig, mit dem Schimmer von geraspeltem Mond

Wir bauten nichts an, lagen im Schiefer
Millionen Jahre nach dem Tertiär
wir lagen zwischen den Bildstrecken von Spiegel, Stern und Zeit
vor uns grünte ein Tal, und die Leute sagten
„Sie sind in einem Dorf, legen Sie ab“
sagten „Quark im Schaufenster“ oder „Brutal offen“

Hören und fühlen, das war nicht dasselbe
für uns, falsches Getreide, die verfrühte blindengerechte Lese
aus den körnigen Apokryphen, Seume
latschte von Leipzig nach Syrakus, wir nahmen die Kuckucksbahn
ernteten unreife Grumpern, schnitten Schalen von Apern
die laschen Schellen und Backpfeifen, in diesem ehemaligen
Oberlausbubengestrüpp sagte niemand mehr „Gau“
[…]“

Tom Schulz
Die Verlegung der Stolpersteine
Hanser Berlin
2017 · 128 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-446-25468-8

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