Am Ende des Lateins kommen die Gedichte
Ein schmales Buch. Weniger als eine Stunde braucht man, dann hat man es durch. Im Alter von sechzig Jahren hat sich der nicht gerade als Vielschreiber bekannte, heuer im Alter von achtzig mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Lyriker Tomas Tranströmer hingesetzt und seine Erinnerungen an Kindheit und Jugend aufgeschrieben. Auf achtundsiebzig Seiten. Dabei handelt es sich um acht Prosastücke mit den unprätentiösen, skizzierenden Überschriften: „Erinnerungen“, „Museen“, „Volksschule“, „Der Krieg“, „Bibliotheken“, „Gymnasium“, „Exorzismus“ und „Latein“. „Es ist hier ein Selbsterzähler zu erleben“, schrieb unlängst sein deutscher Verleger Michael Krüger, „der in skeptischer Lebenszugewandtheit auf seine Geschichte schaut. Größer aber, bleibender ist die Lyrik“. Ich denke, anders war es von Tranströmer auch nicht gedacht. Die acht Studien in „Die Erinnerungen sehen mich“ stecken schon mal die Claims ab für seine spätere Hinwendung zur Lyrik. Welche Prägungen erfährt der junge Mensch in der wesentlichen Zeit der Kindheit, die dann den Schweif der lyrischen Existenz hinter sich herzieht? „Mein Leben. Wenn ich diese Worte denke“, schreibt Tranströmer zu Beginn, „sehe ich einen Lichtstreifen vor mir. Bei näherer Betrachtung hat der Lichtstreifen die Form eines Kometen, mit Kopf und Schweif. Das lichtstärkste Ende, der Kopf, sind die Kindheit und das Heranwachsen. Der Kern, sein dichtester Teil, ist die sehr frühe Kindheit, wo die wichtigsten Züge in unserem Leben festgelegt werden. Ich versuche, mich zu erinnern, versuche, dahin vorzudringen. Aber es ist schwer, sich in diesen verdichteten Bezirken zu bewegen, es ist gefährlich, ein Gefühl, als käme ich dem Tod nahe.“(S.7)
Die autobiographischen Szenen sind chronologisch angelegt: der kleine Tranströmer entdeckt auf seinen Exkursionen (die Mutter ist alleinerziehend, zudem berufstätig) an der Hand des Großvaters die Stadtteile Stockholms, die Museen, die Bibliotheken, die Welt - und alles um ihn herum bleibt Phänomen: „Das Klassenzimmer war ein Theater. Auf die Bühne trat der Hauptdarsteller, der Lehrer, gnadenlos kritisiert. Die Schüler waren das Publikum und manchmal - der und jener - Mitspieler im Drama." (S. 56) Er fühlt sich schnell als Außenseiter, was ihn einigermaßen panisch werden läßt, weil er „von Interessen beherrscht war, die ein normaler Junge nicht haben durfte.“ (S. 30) Er ist Schautafelliebhaber und zeichnet Unterwasserwelten. Der Großvater „war Lotse und mein sehr enger Freund, 71 Jahre älter als ich.“(S.10) Von Anfang an ist das Leben des späteren Lyrikers nach innen gerichtet, die Lehrer, die Klassenkameraden, die Verwandten bleiben Phantome der Außenwelt. Am deutlichsten wird dies im Kapitel „Der Krieg“ (die einzige Kapitelüberschrift im Buch übrigens, der ein Artikel vorangestellt ist), wenn die Intuition des Bösen im Kind über die Verharmlosung und Verschwiegenheit der Erwachsenen in Bezug auf den Faschismus obsiegt: „Ein neuerschienenes Buch stand da, ‚Polens Martyrium‘. Eine Dokumentation. Ich ließ mich auf den Fußboden nieder und las es praktisch von Anfang bis Ende, während darüber die Stimmen lärmten. Das fürchterliche Buch, das ich nie wiedergesehen habe – enthielt das, was ich gefürchtet, oder vielleicht eher: was ich gehofft hatte. Die Nazis waren so unmenschlich, wie ich mir vorgestellt hatte, nein, sie waren schlimmer! Ich las gebannt, mir wurde übel, und zugleich kam ein Gefühl des Triumphes auf: Ich hatte recht gehabt! Alles stand in dem Buch, es war belegt. Wartet nur! Einmal wird das hier enthüllt, einmal werdet ihr, die ihr gezweifelt habt, die Wahrheit ins Gesicht geworfen bekommen. Wartet nur! Und so geschah es ja auch.“(S.39)
Natürlich steht das Buch in einer gewissen Tradition, man denkt an den sich leicht arrogant darstellenden Sartre in „Die Wörter“ oder den literatisierenden Grünbein in „Galilei vermißt Dantes Hölle“: Altkluge Jungs, traumwandelnd in Bibliotheken und Museen, wo sie sich ihren Gegenentwurf schaffen zu Autorität und Gesellschaft. Aber bei Tranströmer erhält sich ein Charme dadurch, daß er sich selbst eher nachtastet, als sich selbst zu stilisieren. Schon der schüchterne Junge auf dem Umschlagbild mit dem leicht beschämt-verschlossenen Blick nach unten (Ein Bild aus dem Besitz des Autors) scheint diese Haltung verdeutlichen zu wollen, sich bloß nicht anzubiedern. Die poetisch-ironische Beschreibung einer Insektenjagd wirkt dann auch gleichzeitig wie ein Kommentar des Autors zu seiner eigenen Schrift: „Ich bewegte mich in dem großen Mysterium. Ich lernte, daß der Erdboden lebt, daß es eine unendlich große kriechende und fliegende Welt gibt, die ihr eigenes reiches Leben lebt, ohne sich im Geringsten um uns zu kümmern. Den Bruchteil eines Bruchteils dieser Welt fing ich ein und nagelte ihn fest in meine Kästen, die ich noch immer habe. Ein verstecktes Minimuseum, dessen ich mir selten bewußt bin. Aber es sitzt da, das Getier. Als wartete es auf seine Zeit.“(S.24) Tatsächlich gibt es auch ein Gedicht Tranströmers, gleichfalls mit dem Titel „Die Erinnerungen sehen mich“, etwa zehn Jahre vorher geschrieben: „Ein Junimorgen: zum Aufwachen zu früh / doch zu spät zum Weiterschlafen. // Ich muß ins Grüne hinaus; es ist übervoll / von Erinnerungen, und sie folgen mir mit dem Blick. // Zu sehen sind sie nicht, sie verschmelzen / mit dem Hintergrund, perfekte Chamäleons. // Sie sind so nah, daß ich sie atmen höre / obwohl der Vogelgesang betäubend ist.“ Dadurch, daß Tranströmer seine Erinnerungen eher bestaunt, sich ihnen hingibt, beziehungsweise versucht, ihnen etwas abzulauschen, anstatt analytisch oder gar psychoanalytisch Kindheit und Jugend auszudeuten, bekommen diese Lebensskizzen einen gewissen Zauber; man fühlt sich atmosphärisch fast – auf die Gefahr hin, hier in die Klischeefalle zu tappen – an Ingmar-Bergman-Filme wie „Wilde Erdbeeren“ oder „Fanny und Alexander“ erinnert. Aber Tranströmer kommt gottseidank im Kapitel „Gymnasium“ selbst auf den Regisseur und Landsmann zu sprechen: „Jeden Morgen versammelten sich alle Schüler in der Aula, sangen Kirchenlieder und hörten sich eine Predigt von einem der Religionslehrer an. Danach Abmarsch in das jeweilige Klassenzimmer. Die kollektive Södra Latin-Stimmung findet sich in dem Film ‚Hets‘ (Hetze) von Ingmar Bergman verewigt, der um diese Zeit in der Schule gedreht wurde. (Wir, die wir damals auf die Schule gingen, sind in einigen Filmszenen als Statisten dabei.)“ (S. 52) Im letzten Kapitel schildert der Dichter in dem liebenswürdigen lakonischen Ton, der dem ganzen Buch eigen ist (auch ein Verdienst des Übersetzers Hanns Grössel), wie er durch den Lateinunterricht anhand der horazischen Strophenformen, der sapphischen und der alkäischen, in sein eigenes Schreiben mündet. Der schmetterlingsfangende Knabe beginnt sich als Lyriker zu entpuppen, und das Buch kann dann auch ruhig enden, weil die Gedichte anfangen.
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