Ein Historiker des Gefühls:
Um es gleich vorweg zu sagen: Diese Gedichte von Udo Grashoff finde ich wirklich lesenswert. Aber warum? Was macht sie so besonders?
Eigentlich wenden sie vergleichsweise wenige lyrische Stilmittel an. Sie machen sich sprachlich kein bisschen interessant. Sie nutzen noch nicht einmal jene Spannung oder Atemlosigkeit, die ein raffiniert gesetzter Zeilensprung im Text erzeugen kann. Geschriebener und gesprochener Text erscheinen darum oft deckungsgleich, was ja normalerweise langweilig sein könnte. Normalerweise, aber nicht hier! Warum? Was fasziniert mich so an Udo Grashoffs Texten?
Der Band ist in sieben Kapitel gegliedert. Ich werde diesen bei meiner Beschreibung folgen.
Die Gedichte des ersten – SCHÖNES FELL – sprechen von Tieren, aber natürlich nicht nur. Jeder der Texte drückt etwas aus, das über die Tierbeobachtung hinaus geht, bisweilen etwas Geheimnisvolles wie im zweiten Gedicht, in dem die Schäferhunde, da die Schafe abgezogen sind, "durch die Städte ziehen" und dort "etwas Großes grundlos noch hüten".
Geheimnisvoll auch die Erscheinung der weißen Wölfe im fünften Text, welche nachts "an den Rand der Betonfestung" kommen, "einer kommt nach dem anderen vor / an die Kante, bleibt stehen / du ziehst deine Hand aus meiner Hand / sie blicken dich an". Das wirkt magisch auf mich, und ich denke, da schreibt einer, der in einer Begegnung mit Wölfen im Zoo Jahrtausende alte, archaische menschliche Gefühle erkennt und, ohne sie zu benennen, ins Bild setzt. Ein Historiker des Gefühls.
Ähnlich im sechsten Gedicht – wie alle sieben Texte des ersten Kapitels ohne Überschrift – wo ein lyrisches Wir den Tieren, die es tötete, in sich selbst wiederbegegnet. Auch dieses Gedicht endet archaisch: "draußen ist alles Beute / was sich bewegt".
Im zweiten Kapitel tritt das lyrische Ich auf. Es tritt mit seinen Ahnen, seiner Familie auf. Hier kommt der Historiker Grashoff ins Spiel. Und er bringt den "Familienbaum" seines lyrischen Ichs mit, einen Familienbaum auf DDR-Staatsgebiet (samt Onkel aus dem Westen). In den Texten dieses Kapitels mit der Überschrift MISCHBATTERIE zeichnet Grashoff mit wenigen Strichen eindrücklich eine Kindheit in der DDR.
KINDHEIT IN KLAUSUR
es gab klare Anweisungen
gegen das ständige Klopfen der Herzen
wurden Trostpflaster ausgeteilt
niemand las Marx
aus der Himbeer-Fassbrause
stiegen ehrliche Augen auf
man war pünktlich
das Fieber stieg nie über vierzig
Wunden heilten mit Sepso
und an jedem Morgen
ging die Sonne im Osten auf
Und immer wieder fühlt sich das lyrische Ich zurück in die Geschichte, seine, die seiner Familie, des Landes. So im Gedicht "Alte Harzstraße", in dem "einzelne schiefe Menhire" in einer Landschaft stehenblieben, die sich in "plane Gebiete" verwandelt hat. Wie schön, wenn er am Ende des Textes mit einem einzigen Wort alles wegwischt: "Scheibenwischerflüssigkeit". Der Blick des Historikers richtet sich auf die Dinge, die übrig bleiben, wenn die hochfahrenden Systeme und Ideologien über die Brücken der Menschheit gefegt sind: Er sieht die Graffiti unten an den Brückenpfeilern und damit den machtlos ausgelieferten Menschen (UNTER DER BRÜCKE DURCHATMEN).
In diesen Texten Udo Grashoffs ist viel Nachvollziehbares an Gedanken seiner DDR-Generation. Immer wieder bringt er diese auf den Punkt, wie im Gedicht ONKEL MIT GLASAUGE: "wir saßen am Ufer von Balatonlelle / und sahen die Narben an seiner Brust / ganz nahe am Herz war noch eine Kugel / die hatten sie ihm nicht rausoperiert / falls es wieder / gegen Russland geht" oder in FUNKY TOWN: "der Westen war riesig / wir haben ihn / bis zum Anschlag gedacht". Wie der Staat in die Familie eindrang, zeigt in sieben Zeilen der Text MISCHBATTERIE. Für mich, als im Westen sozialisierte Lyrikerin mit familiären Wurzeln in Dresden und Leipzig, sind solche Texte überaus spannend, auch heute noch.
Bisweilen erinnern sie mich an Gedichte von Bertold Brecht: "beim Anblick der Reisegesellschaft vor deinem Haus / die am Bus steht und wartet / dass der Fahrer den Reifen wechselt / fragst du dich / ob du zu ihnen gehen sollst / …
Der Text steht im folgenden Kapitel mit der Überschrift BLUT IM SCHUH. Auch in diesem ist viel über den DDR-Alltag zu lesen. Die Gedichte von Grashoff erscheinen mir auch hier ungewöhnlich welthaltig. So, wenn er über die Hündin Laika schreibt, die 1957 ins All geschickt wurde: "Straßenköter, verreckt wie ein Straßenköter / im Stahl-Satelliten / kurz nach dem Start". Oder wenn das lyrische Ich in einen toten deutschen Wehrmacht-Piloten schlüpft, der von Archäologen ausgegraben wird (PRESSETERMIN). Oder wenn er im Gedicht TAUWETTER einen Begriff aus der sowjetischen Politik in den Alltag eines lyrischen Ichs übersetzt: "ein Gefühl, unbedingt etwas machen zu müssen jetzt / rasenden Herzens, ohne Idee / Haselnüsse knabbern bis spät in die Nacht / am Radio sitzen, blinken, standby".
Viele der Texte wirken biografisch: "zwischen mir und den Menschen ist Luft / vielleicht ist es gar nicht mein Ding / zu erwachen, vielleicht bin ich / parallel". Oft werden Gefühle in Bezug zum Weltgeschehen gesetzt. Und immer wieder erfahre ich als Leserin etwas über Gefühlslagen von Menschen mit einer mir fremden und dennoch vertrauten Sozialisation. So zum Beispiel im zweiten Text des Kapitels UNTER DER ZWEIFELDUSCHE: "immer wenn du blutest / ziehst du los, einen Bauernhof anzuzünden / stundenlang suchst du ein eitles Gehöft / das dich provoziert // …"
Hier und im vorletzten Kapitel ÖDIPUSTAXI ist viel vom Vater und von den ostpreußischen Großeltern des lyrischen Ichs die Rede: "wenn Vater dich streichelt / mit seiner hölzernen Hand / ziehst du deine Wange nicht gleich weg / er weiß ja nicht, was er tut / …“ und:
PANJEWAGEN
vielleicht war es so: die Mutter
meines Großvaters starb bei der Fahrt
über polnische Erde
als das Schlimmste schon überstanden war
jetzt bleiben wir erst einmal hier
sagte Großvater, später geht es zurück
an die Alle, wir schießen Tiere
und bau'n eine Hütte im Wald
das andere ist zu ertragen
die tiefgefrorene Alte
kommt in die Kiste
die Tochter kann darauf schlafen
in Felle gehüllt
ihr Kleines an der Brust
das sowjetisch weint
Die Gedichte des letzten Kapitels wirken anders. Sie arbeiten mit den gleichen Mitteln, aber ihre Inhalte sind durchweg zeitlose Bilder des Inneren. "als König findest du dich / in den weichen, lockeren Schalen der Nacht / … Glocken läuten / es ist an der Zeit / noch etwas zu warten / auf einen wirklich grandiosen Moment".
Sie führen den Lyrikband zurück in die Gegenwart.
NEIGEZUG
am Fensterglas sitzen
durch Thüringen gleiten
zwei Stunden hinter mir
zwei Stunden vor mir
Regen ist draußen
Licht vibriert
und der Level der Angst
gleich Null
Und da ist sie wieder, die brechtsche Lakonie. Vielleicht macht sie den Reiz der Texte aus.
Zum Schluss ein Wort zur Gestaltung des Buches: Autorenname und Titel wirken in ihrer grafischen Setzung zunächst interessant, aber nach zweimaligem Hinschauen beginne ich mich zu ärgern. Darüber, dass ich beides jedes Mal erst entziffern muss. Aber besonders darüber, dass beides wie ein Gedicht gesetzt ist. Und dies erscheint mir nicht angemessen, da es keines ist.
Fixpoetry 2015
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