Äolisch-kreolische Wiedergeburt
Im Frühjahr 1960 reisten Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir nach Kuba. Ein Jahr zuvor hatte die Revolution stattgefunden. Damals war es schwer, Kuba nicht zu lieben, Sartre war begeistert. Es war ein Ort der Utopie. Aber trotz aller Sympathie für Kuba und die Kubaner war Sartre auch skeptisch und wollte sich keine Illusionen machen. Fidel Castro, den er bewunderte, sagte er mehrmals: „Vor Ihnen liegt der Terror.“ Sartre stützte die Voraussage auf seine Arbeiten zur „Kritik der dialektischen Vernunft“, mit ihren scharfsinnigen Analysen zum flüchtigen Augenblick der Befreiung in allen Revolutionen, auf den unausweichlich die Verbrüderung durch den Terror folgen müsse, die ihrerseits zu einer Bürokratie des Verdachts und zur Diktatur führe. Castro wollte davon nichts wissen.
Mehr als ein halbes Jahrhundert später ist das Geschichte. Das Land ist verarmt, einige sozialistische Errungenschaften, im Bildungs-, im Gesundheitswesen, sollen weiter funktionieren, die Diktatur gibt es noch immer, die Korruption ufert aus, es gibt kaum Hoffnung auf Veränderung, wie überall, wo die öffentliche Kontrolle der Macht schwach ist. Kuba ist heute kein Ort mehr der Utopie. Aber das Land trägt, weil es arm ist und Investitionen kaum möglich, seine Geschichte sozusagen im Gesicht. Und so ist es zum Ort vielfacher Nostalgien geworden: noch sieht man die prächtigen Villen und Stadthäuser der Kolonisationszeit, dem Verfall preisgegeben, aber erhalten, weil sie als Wohnraum genutzt werden, noch fährt man in den amerikanischen Straßenkreuzern der Nachkriegszeit, weil niemand sich neue Autos leisten kann, noch sind die Mauern beschrieben mit den Parolen der Revolution und des sozialistischen Aufbaus, und eine prosperierende Tourismusbranche ermöglicht reichen Amerikanern und Europäern ein wohlfeiles und oberflächliches Karibik-Glück, in dem auch die Utopie nostalgisch genossen und politisch verabschiedet werden darf, selbst die Prostitution ist geduldet und billig.
Udo Kawasser, Österreicher vom Jahrgang 1965, gehört einer Generation an, welcher der politische Gehalt der Utopien noch umrißhaft bewußt ist, die aber auch durch die Enttäuschung und Ernüchterung geprägt ist, die sie hinterlassen haben. Vor dem Horizont einer verdunkelten Zukunft erhält die noch aufrecht erhaltene Utopie einen restaurativen Zug, sie wendet sich weit entlegenen Vergangenheiten zu, der Mythos feiert Auferstehung, auch wenn er, was man nicht wahrnimmt, bloß noch ein durch bürgerliche Bildung vermitteltes intellektuelles Konstrukt ist. In der Prosa Einbruch der Landschaft, Zürich – Havanna (2007) hatte Udo Kawasser eindringlich von einem Aufbruch ins postrevolutionäre Kuba erzählt, nach dem Zerbrechen aller Beziehungen und eine abbruchreife Kultur in Europa zurücklassend: auf der Suche nach sich selbst im Sinnbild des längst eingebrochenen und untergegangenen Atlantis – wovon Kuba sozusagen ein abgebrochener Rest in der Gegenwart ist. Den Ab- und Aufbrüchen folgte aber in Havanna kein Durchbruch in mythische Wirklichkeiten. Am Schluß des Buches erkannte der Erzähler, daß er nicht weit genug gegangen war. Er ließ das Ticket für den Rückflug nach Europa verfallen und fuhr, bar aller Rückversicherung, tiefer ins Innere der Insel.
Mit seinem zweiten Gedichtband kleine kubanische grammatik knüpft Udo Kawasser an den offenen Schluß dieser Prosa an. Wer freilich in der Lage ist, eine kleine Grammatik der Landessprache zu schreiben, der ist in diesem Land kein Reisender mehr ist, nicht mehr bloß unterwegs, nicht mehr auf der Suche: er ist angekommen, er kennt das Land, er hat sich eingelebt. Die Wirklichkeit, mit der er es zu tun hat, ist nicht mehr mythisch fern: sie ist unmittelbare Gegenwart, sie brennt auf der Haut, sie ist widersprüchlich, sie ist politisch. Um diesen Perspektivwechsel, auch angesichts der inhaltlichen Verschränkungen mit dem älteren Prosabuch, zweifelsfrei deutlich zu machen, hat der Autor dem neuen Gedichtband ein Motto von André Malraux vorangestellt: in der politik ist es manchmal wie bei der grammatik. ein fehler, den alle begehen, wird schließlich als regel anerkannt. Udo Kawasser weiß das elegant, bissig und überzeugend im Gedicht zu sagen (grundgrammatik, 5. schulstufe):
andere zeiten des modus indikativ: die zukunft
beispiel:
wir werden den imperialistischen feind besiegen.
Fragen:
1. was ist das subjekt des satzes?
2. wie hast du die zukunft erkannt?
Dies Gedicht möchte man in Schulbüchern lesen, die Fragen sind einfach, es lädt geradezu ein, darüber zu diskutieren. Gewiß hat es in der Tradition des politischen Gedichts Vorbilder, aber das besagt nichts, da der Anstoß, den es dem Denken gibt, aktuell und eigenständig, und die Form, die er sich gibt, hinreichend variabel ist, ohne völlig leer zu sein. Udo Kawasser beweist diese Variabilität selbst, indem er mit im museum der revolution einen Text der gleichen Grundform, aber doch in ganz anderer Ausführung vorlegt.
wir werden den imperialistischen feind besiegen ist eine der zahllosen Parolen, die, mittlerweile auch schon verblassend, Wände und Mauern in Havanna zieren. Udo Kawasser liest die Stadt, wenn er sie durchstreift, wie ein palimpsest: IN JEDEM VIERTEL REVOLUTION. Aber der Autor will tiefer liegende Schichten freilegen: leben als äolischer eintrag im pergament der stadt / geschichte abwaschbar höchstens mal n bisschen / kratzn aber das blut geht nicht ab. Das greift weit zurück bis zu den Anfängen der abendländischen Poesie im Nordosten Griechenlands, zu den Liebesweisen der Sappho, den Kampfgesängen und Trinkliedern des Alkaios, den mythologischen Wurzeln in den ältesten äolischen Schichten des Homerischen Gedichts. Udo Kawasser setzt diese Tiefenerinnerung gleich mit dem ursprünglichen Leben. Das würde, als philosophische Theorie, der Dialektik der Aufklärung heimfallen. In der Poesie ist es, nimmt man das Folgegedicht kleines havannABC hinzu, ein unreiner, aber sinnfälliger Reim: äolisch – dorisch ionisch kreolisch. Der Übersprung ins Kreolische erlaubt dem Autor mit der anderen Sprache die Aneignung eines neuen Lebensgefühls, das sich sinnenfreudiger Ausdruck gibt, als es in Europa noch üblich ist. Und er ermöglicht ihm eine unmittelbare Teilnahme, zwar als einem Fremden, aber doch nicht mit dem voyeuristischen Blick des Touristen (vgl. das Gedicht prado), sondern als ein willkommener Gast im Lande. So ist es nur konsequent, daß Udo Kawasser einige seiner Gedichte auch in der Landessprache, dem kubanischen Spanisch, vorstellt. Nobel ist auch, daß er einer seiner Gastgeberinnen, der Dichterin Reina María Rodriguez in diesem Bändchen den Raum für ein Gedicht gegeben und dieses übersetzt hat (Mi aventura de soledad / Mein einsames Abenteuer), um daran Dialoge zu knüpfen, die den atlantischen Einbruch überbrücken sollen (ANIMA DIALOGE). Am schönsten aber gelingen dem Berufstänzer Kawasser die Verse, die sich auf den Körper selbst beziehen, seine Vitalität, seine Bewegungen, das Spüren der Haut beim Schwimmen im Meer (nacht.schwimmen), die Beobachtung des im Sturzflug einen Fisch erbeutenden Pelikans (malecón-kodaks II), die geöffnete Frucht mit dem erotischen Bild, das sie weckt: fruta die papaya ist keine frucht die ein gedicht benötigt bomba (auf zuruf), und alles gebündelt in dem heiteren Listengedicht létania de mango (con coda colombiana) / mangolitanei (mit kolumbianischer Coda), mit dem der Autor den Band eröffnet, und das eigentlich mehr ist als nur ein Gedicht: es ist eine Art Partitur für eine bei geselligen Festen immer wieder mit großem Spaß aufführbare Performance zur Freude am Leben, man versuche es nur: wer möchte, kann sich auf YouTube inspirieren lassen. Udo Kawassers kleine kubanische grammatik huldigt keiner Revolutionsnostalgie. Aber sie beschreibt einen realen Ort, in dem auch utopisches Denken wurzeln kann.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben