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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Ausgehend nicht mehr zurückkehren müssen

Hamburg

Erscheint ein Gedichtband in jenem mittlerweile beinah unübersichtlichen Konglomerat kleiner Verlage, denen man ihren Enthusiasmus weiterhin zu Gute halten möchte, und doch fragt man sich vielleicht nach der Relevanz, die aus dieser zunehmenden Unüberschaubarkeit kaum mehr auszumachen ist und begrüßt, befleißigt hierüber einige Zeilen zu verfassen, ein weiteres Buch in der großen Bibliothek. Jedes neue Buch soll bekanntlich willkommen geheißen werden, wie sehr es irgendwer braucht, mag da zweitrangig sein, und das ist auch gut so. Wir lesen dieses neue Buch vielleicht in schlaflosen Nächten und manchmal, wie im Falle der Gedichte Ulrich Ziegers, haben wir es nach und nach aufgesogen und zurecht willkommen geheißen, denn seine Lektüre lässt uns etwas von der Essenz des Schreibens und Lebens erahnen.

Zieger (Jg. 1961), der bereits Anfang der 1990er Jahre im gleichermaßen hoch geschätzten wie berüchtigten GALREV-Verlag (der beiden informellen Mitarbeiter Sascha Anderson und Rainer Schedlinski) mit Gedichten debütierte, ist in den Jahren danach vor allem mit Theatertexten, aber auch mit Prosa, in Erscheinung getreten. Bewusst oder im Affekt hat er sich dem Literaturbetrieb stets weitestgehend fern gehalten und mit „Aufwartungen im Gehäus“ erscheint seit längerer Zeit wieder eine größere Sammlung von Gedichten. Dies alles sei voran geschickt, um klar zu machen, dass Zieger nichts mit den (zu) späten Debütanten gemein hat; er hat bisher ein nicht unerhebliches Werk verfasst, das einer größeren Öffentlichkeit freilich überwiegend verschlossen geblieben ist.

Ein Blick auf seine lyrischen Texte zeigt sofort, dass hier ein ästhetisch geschulter Autor am Werke ist, der weniger im Referenzraum gegenwärtiger Postmoderne zuhause ist, als in den Stimmen, Stimmungen und Strömungen der Moderne, die aus dem zwanzigsten Jahrhundert weisen. Im Gegensatz zu vielen anderen heutig Schreibenden reklamiert Zieger nichts artistisch Neues für sich und seine Gedichte. Sie stehen in einem variablen Sprechmodus und können in ihren besten Momenten Klarheit für sich beanspruchen, und die sich daraus ergebende Schönheit des Augenblicks: „in den monaten oktober, november,/zuweilen im januar machten wir den spaziergang/entlang der sümpfe vor séte,//wir überließen uns dem wind,/die wasseroberfläche spiegelte den himmel,/wie es ihn sonst im jahr nicht geben kann,//minuten saßen wir irgendwo drinnen, tranken etwas, blickten hinaus auf das meer/oder lehnten aneinander.“ In einer Reihe von Texten tritt eine Entrücktheit vom Alltäglichen hervor, die die Dinge jenseits des Profanen aufzeigt. Den Dingen werden Fähigkeiten und Eigenschaften zugesprochen in einem dichterischen Akt, und jene brüchigen Beziehungen, die Menschen eingehen um diese Dinge herum, in ihnen, mit ihnen und aus ihnen, vermag Zieger einen „poetischen Sinn“ einzuhauchen. Und dies macht die Gedichte wertvoll, auch wenn der Band mit gut 130 Seiten ein stärkeres Gefälle aufweist und manches zu Ausführliche, Redundante enthält. Der Dichter vermag es, die scheinbar toten Dinge zu beleben, er spricht ihnen zu. Einstweilen sind die Dinge und ihre Prozesse in Gang geraten oder aus den Bahnen geworfen worden, und vor oder hinter „dem fremden mit den schönen ohren“ leuchten jene Orte auf, die Orte des Gedichts, die uns der Dichter suggeriert als die seinen. Wir finden sie auf keiner Karte wieder, es sei denn, ein Buch ist eine Sternen- oder Mondlichtkarte; dann würden wir die überwiegend südlichen Landschaften Ziegers ganz nah bei uns wissen. Manchmal liegen sie unweit von einem Ruhepuls und evozieren eine erschütterte Gelassenheit, die auch dem Wissen entspringt, dass Kunst jenseits gesellschaftlicher Zusammenhänge ihren eigenen autonomen Ort besitzt. So nimmt es nicht wunder, dass in allerlei Passagen Rimbaud und Valery aufeinander treffen und andere große Geister vergangener Pariser Welten eine Reminiszenz erfahren.

Wahrscheinlich stehen diese Gedichte mehr in einer französischsprachigen Tradition als in einer deutschen, aber ist dies unbedingt von größerer Bedeutung? Es finden sich mitunter dezente Anklänge an Blaise Cendrars und Nicolas Born, an René Char und Lawrence
Ferlinghetti; dies alles ist fein verwoben und komponiert, und zu sehr gehört Zieger keiner der möglichen Richtungen an, wenn es die denn überhaupt gibt. Die „schönen Schlacken der Erfahrungen“, wie Tomas Tranströmer es formuliert hat, hier kann man sie auflesen, wiegen:„ich habe die guten gesehen, sie sind nicht gut/ich habe die bösen gesehen, sie sind nicht wofür man sie hält//was heißt gesehen, gesehen heißt gesehen/gesprochen, berührt, mit den fäusten berührt, mit den lippen…“.

Das gelegentlich zu oft strapazierte „Lebenswissen der Dichtung“, womöglich durchweht es die Gebilde und verschlägt uns an eine andere Stelle der Existenz, in dem wir in jenem Text wandeln, mit ihm weitergehen, an die Stelle, die Ulrich Zieger „in einem tal/einem anderen tal“ wähnt: „einmal möchte ich ausgehend nicht mehr/zurückkehren müssen.“

Ulrich Zieger
Aufwartungen im Gehäus
Edition Rugerup
2011 · 144 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-942955058

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