horch wie es grimmt
Achtzehn Gedichte und ein Nachwort der Herausgeberin Brigitte Labs-Ehlert schlank ist dieser neueste Lyrikband Ulrike Almut Sandigs. Die Texte entstanden 2014 während ihres Aufenthalts „im Paderbörnschen“, jener Gegend, in der im 18. Jahrhunderts die hier ansässige Familie Haxthausen einen literarischen Kreis gründete und gemeinsam mit Gleichgesinnten ihrer Leidenschaft des Märchensammelns nachging. August von Haxthausen hielt diese Märchen und Sagen, die bis dahin mündlich tradiert worden waren, erstmals handschriftlich fest und übergab sie dem befreundeten Brüderpaar Wilhelm und Jakob Grimm, die sie dann ihrer eigene Sammlung hinzufügten. Ungefähr 80 Geschichten, und somit etwa ein Drittel der Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen, entstammen laut Labs-Ehlert dem Kreis um die Familie von Haxthausen.
Ulrike Almut Sandig hat während ihres Aufenthalts einige Märchen ausgewählt - ich nehme als Unkundige jetzt einfach an, dass es welche "aus dem Paderbörnschen" waren, da sie schließlich dort weilte. Es sind bekannte Geschichten darunter, "Der Wolf und die sieben Geisslein", "Brüderchen und Schwesterchen" oder "Frau Holle", aber auch unbekanntere wie "Fitchers Vogel", "Von dem Machandelboom" oder "Muttergottesgläschen". Weil ich es nicht leiden kann, allzu unkundig zu sein, habe ich mich nach der ersten Lektüre von Sandigs Gedichten wieder einmal in die Grimm'schen Märchen vertieft, habe all jene Geschichten, die im Gedichtband vorkommen noch einmal gelesen, sie „aufgefrischt“ und dabei manche Details auf einmal neu gelesen, obwohl ich dachte, sie ohnehin gut genug zu kennen. Das hat vielleicht auch mit den Gedichten zu tun, die den Boden hierfür bereiteten. Und es war nicht der schlechteste Weg, mich erst danach wieder Sandigs Texten zuzuwenden, um die Bezugs- und Bedeutungsebenen ganz anders ausloten zu können.
Sandigs Gedichte sind kein wohlfeiles "Benutzen" des vorliegenden Materials, sind auch keine Verdichtung der altbekannten Stoffe, keine lyrischen Märchenkondensate, sondern ferne Echos jener Grimm'schen Märchen, lyrische Konzentrate, die im fragilen Heute wieder einmal schwindender Gewissheiten verankert sind, eine poetische Bestandsaufnahme, die sich mit im weitesten Sinn politischen Verwerfungen, menschlichem Ungenügen und Dysfunktionalität beschäftigt.
"Das Märchen vom Schlauraffenland" heißt der erste Text dieses Buchs nach jener bekannten Lügengeschichte, in der sich Nichtstun und Faulheit lohnen, einer durchaus auch heute noch sehr populären Utopie. In Sandigs Zeilen liest sich das so:
sag einfach drei mal: Schlauraffenland, Schlauraffenland
wir haben uns in deinen Einkaufszentren verlaufen
sie gleichen einander aufs Haar ...
„Schlau raffen“ lässt an einen Werbeslogan wie „Geiz ist geil“ denken, Konsumkritik also in poetischem Gewand, die auch das Flüchtlingsthema aufgreift und die mancherorts erträumte Abschottung Deutschlands nach außen – mit hier ganz eindeutigem Ausgang:
sag’s dreimal hintereinander: du kommst hier net rein
du kommst hier net rein, du kommst –
Sandigs hier vorgelegte Gedichte sind in Form und Inhalt variantenreich, was auch mit den zugrunde liegenden Märchen zu tun hat. Sie glänzen nicht durch großartige Wortneubildungen oder kühne Bildsprache. Ihr Ton ist leicht und er bleibt es auch, wenn er von Ungeheuerlichkeiten berichtet wie Krieg und Mord, von menschlichen und politischen Unzulänglichkeiten. Die Texte stehen in der Tradition der mündlichen Überlieferung, was sie mit Märchen verbindet, die, zunächst mündlich weitergegeben, fast immer auf wahren Begebenheiten beruhten, sowie mit lokalen wie globalen Erzähltraditionen über die Jahrhunderte. Und so "funktioniert" auch Sandigs Lyrik im Hier und Heute über das gesprochene Wort noch ein Mal ganz anders. Man kann die Gedichte laut vor sich hin sprechen und sich dabei selbst erzählen. Oder man besucht Sandigs Webseite, auf der einige Hörproben zu finden sind: Texte auch aus diesem Band, die von der Lyrikerin in einem gleichförmigen Singsang vorgetragen werden, einer Märchenerzählerin gleich, untermalt von einfacher elektronischer Musik, und es ist die unaufgeregte Stimme Sandigs (oder diese in Kombination mit der eigenen Lesart), die den Worten zusätzliche Intensität verleiht.
ich hatte mich fast an die Drohnen gewöhnt
ihr präzises Gleiten in der Unbemanntheit
der Atmosphäre, ehemals Himmel genannt
ihre innere Leere, die gleichzeitige Fülle
von Fantasie an sich freundlicher Ingenieure
aus Überlingen, wochentags verdingen sie
sich an Verfeinerungen der Navigation
sonnabends verschneiden sie ihre Hecken
am siebenten Tag aber ruhen sie aus ...
So beginnt das Gedicht "Von einer, die auszog, das Fürchten zu lernen". Etwas später heißt es: "alle Augen gen Himmel gerichtet, ehemals / einfach nur Wetterschauplatz genannt". Ort der Handlung könnte irgendein Ort in Deutschland sein, Überlingen wird genannt. Doch wird schnell klar, dass es um einen Kriegsschauplatz geht, dass der Himmel hier nicht mehr seine unschuldige Bläue oder das Wetter bietet, sondern Bomben, Detonationen und Zerstörung, die von Drohnen erledigt wird und nicht mehr einer menschlichen Hand am Knopf, Schalthebel oder Abzug bedarf, Drohnen, geschaffen von freundlichen deutschen Ingenieuren in ihrem gottgleichen Status.
Nicht zuletzt spielt Sandig in ihrem Buch mit dem Wort "Grimm", das zunächst natürlich den Bezug zu den Grimm'schen Kinder- und Hausmärchen herstellt. Im titelgebenden Gedicht "Grimm" ist jedoch kein Anklang an jene Geschichtenwelt zu finden, die uns "der Volksmund" weitergab. Hier wird vielmehr eine sehr heutige Zerstörung (oder vielleicht präziser: eine Utopie der Zerstörung aus der Wir-Perspektive) imaginiert, in der alles so gleich gültig wie egal zu werden scheint, ein Tanz auf dem Vulkan, der hier eine Art Dauerparty in schwankenden Wolkenkratzern ist, auf der jede Art so genannter zivilisierter Kommunikation bereits abhanden gekommen ist.
wir schrieben uns Nachrichten auf rohen Eiern
wir hielten unsere Kratzer und Schleifen
auf Kalk für glückliche Zeichen, einander ohne
Rücksicht auf Verluste, buchstäblich alles
schreiben zu können ...
Und so, wie ein Ei nach dem anderen kaputt wird -
pah, kein Problem!
..., brechen auch Gebäude, zerfallen -
war schon mal / die ganze Seitenfront weg
..., knicken Lückenruinen der Reihe nach ein, bleibt
... eine gegen Unendlich
gehende Menge an Scherben und Grimm.
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