Schreiben als Stoffwechsel
In einem Radiobeitrag hat Ulrike Draesner einige Monate vor Erscheinen ihres neuesten Gedichtbandes „subsong“ davon gesprochen, dass sie Vogelgesang als Urgrund der Poesie ansieht. „Singvögel singen nicht nur, um ihr Revier zu verteidigen, oder um zu balzen“, sagt sie. „Sie singen auch nach der Brut. Plaudergesang. Subsong: Probieren, ganz individuell, neue Melodien aus, imitieren Geräusche oder andere Vogelgesänge. [...] Ich sage: Ohne es zu bemerken, beobachtet man Poesie.“
Was Draesner bei den Vögeln beobachtet hat, ihre Art, Poesie entstehen zu lassen, bildet das Programm, dem sie in ihrem Gedichtband nachgeht. Plaudergesang, die individuellen neuen Melodien, wenn sie ihre Tochter beobachtet, wie sie Sprache entwickelt. Vokabeltrainer nennt Draesner das Kapitel, unter dem diese Gedichte versammelt sind, mit dem Untertitel „einsingen“, in der sie die Sprachentwicklung poetisch nachvollzieht und begleitet.
In dem eingangs erwähnten Beitrag, fragt sich Draesner, ob ein Gedicht schreiben vielleicht eine Art ist, nach Verstecken zu suchen. „Was in den Erscheinungen versteckt ist. Erscheinungen, zu denen auch Worte zählen. [...] So führt mich der Vögel Subsong, ihr unter den Bedeutungen frei sich entwickelndes Lied, zu dem Wort Sprachschatz. Bis ich etwas davon fühle-ergreife: Wie Wissen in Sprache wartet. Dort nicht ruht, sondern treibt.“
Und ich zitiere das hier nicht nur, weil es wunderbar verdeutlicht, wie Draesner Poesie herstellt und versteht, sondern weil dieses Zitat natürlich umgesetzt wird in den Gedichten, wo durch die beobachtete Lautverschiebung, Buchstabenersetzung, neue Bedeutungen entstehen, wie in „paprika mamrika“
[...]
der rote drache mit den nicht mehl
glünen augen ... und erzährte von feuer
und schreichen, herrrich war
das reben in diesem herbst
Aber die Subsongs erzählen nicht nur von Sprache, vom Sprachschatz und den sich plötzlich offenbarenden Bedeutungserweiterungen, sondern vom Kind sein, vom Mutter und Tochter sein, von Behütung, Innigkeit und Ablösung. In so wunderbaren Versen wie diesen:
[...]
komm! Ich
putz dir erst mal den berg
über den du
musst...
Aus dem Vokabeltrainer, dem einsingen, wird ein Vokabeldehner, ein weitersingen. Die Reichweite dehnt sich aus, jetzt geht es um die Strömungen, Unterströmungen, die ein Paar aussendet, denen es ausgesetzt ist.
Die nächste große Gruppe ist „subsongs vom berg“ überschrieben, hier finden sich auch scheinbar kindlich naive Übersetzungen von Beatles Liedern, falsche Freunde und Laute, die einander ähneln. Dahinter steckt jedoch tiefsinniger Witz. So etwas wie eine Unterströmung der Lieder. Draesner selbst schreibt in den Anmerkungen von einem musikalischen Gedächtnis, das die fehlerhafte Übersetzung der elfjährigen Hörerin abgerufen hat.
Die Subsongs vom Steg umfassen lange Gedichte vom alternden Körper:
was brauchtst du um
mit 50 noch einmal
zu wachsen?
Von Kindheitserinnerungen, von der Erinnerung, die in die Zellen eingeschrieben zu sein scheint:
der erinnerung
aus zellen, die, als hätten sie seelen
eine jede für sich [...]
menschen, die ich vermisse
streifen metallisch meine in blitzen
weinende stirn
Hier findet sich auch das sehr eindringliche Gedicht über eine Mutter- Tochter Beziehung, sub mère détachée, das von den Transformationen während des Zusammenlebens von Mutter und Tochter und nach dem Tod der Mutter erzählt:
wie soll ich sie
einfach
den würmern überlassenohne sie aus der alten leere
zu verlieren und wieder
in mir aufnehmen zu müssen
als gebäre nun ich sie
Eindringlich erzählt dieses Gedicht von der leiblichen Genossenschaft von Mutter und Tochter.
Der Steg ist auch der schmale Übergang vom Leben zum Tod, vom Verstehen der anderen zum Verständnis für sich selbst.
So hat sich das „sub“ der Gedichte immer weiter vorgearbeitet, bis zur Kindheit, bis zur Auseinandersetzung mit der eigenen Mutter, dem eigenen Kind- und Tochtersein, bevor dann im sub-sub alles noch einmal auf den Urgrund zurückgebracht wird, auf die Poesie, den Boden von dem alles abhebt, auf dem es letztendlich wieder landet.
Schreiben als Stoffwechsel. „Schreiben wechselt und übersetzt Stoff, indem es von Wirklichkeit handelt, die den Augen nicht offen steht“, schreibt Draesner.
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