Unaufdringliche, souveräne Texte
Im Wesentlichen ist der Essay eine Abschweifung, die ahnt, dass ein auf-den-Punkt-kommen Vereinfachungen nach sich zieht und dass das am Rand Aufgelesene und in Augenschein genommene mehr über ein Phänomen aussagen kann, als eine groß und breit aufgestellte Definition in der Mitte. Ein Essay ist ein Katalog von Eindrücken und Fingerzeigen, eine Ansammlung leichter Feststellungen. Essays schreiben hat einiges mit Komponieren zu tun, aber auch viel mit Dirigieren.
Wir wissen, das Zeichen ist nicht das solchermaßen bezeichnete Ding, und doch hält sich hartnäckig diese – offensichtlich wahrnehmungstaugliche – Vorstellung, dass im Wort, in der Sprache, Geist und Gegenstand einander berühren.
Das Erste, was mir an den Essays von Uwe Timm aufgefallen ist: Sie sind unaufdringlich. Ihre Bewegung ist eine Synthese aus Analyse und Unterfütterung, aus Exploration, Abbau und Veredelung. Man stößt auf keine Äußerung, die eine große Geste sein will oder sich überhaupt gebärdet. Kein großes Kino, dafür schwingt aber eine wohlausgeführte, ökonomisch angenehme Achtung mit, die Timm seinen Themen entgegenbringt und auch in sie hineinlegt. Eine Achtung, die den Dingen eine selbstbestimmte Präsenz verleiht, die nicht unter Worten und Attributen begraben wird; eine Achtung, die dem Gegenstand dient und nicht der sprachlichen Formulierungs- und Erklärungsgier des Autors. Bodenhaftung könnte man das nennen, die man aber nicht mit einer generellen Zurückhaltung verwechseln sollte.
Denn Timm gelingt es trotzdem Grundsätzliches hervorzuheben und feine Abstimmungen vorzunehmen. Was seine Sätze an Pathos weglassen, gewinnen sie an Überzeugungskraft. Und die nüchterne, sortierte Art des Tons unterstreicht ein ums andere Mal die Wichtigkeit der gemachten Feststellung, die Wirksamkeit der Ideen. Es ist die Leichtigkeit, die aus all diesen Eigenschaften resultiert, die den Texten eine gelungene Eindrücklichkeit verleiht.
Diese unparteiische Weisheit trennt und verbindet ihn zugleich mit dem Autor und Essayisten, der beim Namen dieses Bandes Pate stand: Michel de Montaigne. Um ihn geht es im ersten Text – ihn und sein Arbeitszimmer im Turm, das Rückzugsort war und gleichsam Ausguck; diese höhergelegene Warte gewährleistete die nötige Distanz und Zurückgezogenheit, aber auch eine gewisse Übersicht. Den Besuch von Montaignes Turm nimmt Timm aber nicht nur zum Anlass, um über sein eigenes Arbeitszimmer und die Position des Essayverfassenden allgemein nachzudenken, ihm gelingt außerdem ein dünnes Portrait des Denkers Montaigne, wie er in seiner Bibliothek umhergeht und die widersprüchlichen „Versuche“ zu Papier bringt, umgeben von den Klassikern der Weltliteratur auf der einen und den drei Fenstern auf der anderen Seite, von denen aus er Wiesen und Felder, Schafe und Pferde, Bauern und Reisende sieht, das gewöhnliche Dasein.
Er trägt, das ist die normative Kraft des Mythos, ein Versprechen in sich. […] Mythos ist eine Geschichte, die man sich erzählt, um sich seiner selbst und des eigenen Ortes in der Welt zu vergewissern, eine Wahrheit höherer Ordnung, die nicht einfach nur stimmt, sondern darüber hinaus auch noch normative Ansprüche stellt und eine formative Kraft besitzt.
Sehr gelungen sind auch seine beiden Texte über „Märchen“ und „Mythos“. Während er in letzterem vor allem die Mythen der jüngeren deutschen Geschichte, „Die Stunde null“ und die „68er“, dekonstruiert und sich auch allgemein mit der einenden und gleichsam zersetzenden Wirkung des Mythos auseinandersetzt, ist der Text über die Märchen der Gebrüder Grimm eine wunderbare Liebeserklärung, in der nicht nur wesentliche Elemente dieser besonderen Gattung Stück für Stück hervorgehoben werden, das Märchen wir auch in einen übergreifenden Bezug zu den tieferen Sehnsüchten und Ängsten des Menschen gestellt.
Darin liegt das Wissen von der Gefährdung und dem erwartbaren Tod, dem Ende jeder Existenz, und zugleich gegen jede Erfahrung die Hoffnung auf Dauer, auf Überzeitlichkeit.
Oder:
Die archetypische Angst vor dem Kannibalismus, dessen Opfer man werden könnte, findet sich in vielen Märchen. Es ist die Vertilgung der Unschuld, nicht aus rituellen Gründen, sondern aus Hunger oder Perversion als Folge einer obsessiven Macht und deren Selbstgenuss.
Die folgenden Texte setzen sich vor allem mit literarischen Werken und Autoren auseinander. Großartig in ihrer Kürze ist eine kleine Studie zu Thomas Manns Zauberberg, sehr erfreulich und lesenswert ein kleiner Streifzug durch das Romanwerk von Wolfgang Koeppen, eines grandiosen, innovativen Autors, der nicht vergessen werden sollte.
Auch enthalten ist ein Text, bei dem es um die Schönheit der deutschen Sprache geht. Ein heikles Thema und, wenn man es falsch anstellt, auch ein langatmiges. Auch hier zeigt sich noch einmal Timms Gewissenhaftigkeit, mit der es ihm gelingt, einige unaufgeregte, aber faszinierende Ausflüge in die Möglichkeiten der deutschen Sprache zu unternehmen. Und bereits am Anfang dieses Textes schreibt er:
Die Sprache, keine Sprache der Welt, kann sich gegen Missbrauch wehren, das können nur die Sprechenden tun.
Im letzten Text von 2014 besucht Timm ein Flüchtlingslager im nördlichen Tschad. Hier sind fast 50.000 Menschen aus dem Sudan untergekommen, die wegen des Bürgerkriegs (und/oder ihrer Zugehörigkeit zu einer verfolgten Minderheit) aus dem Land fliehen mussten. Es ist ein Bericht, nüchtern und mit wenigen Kommentaren und übergreifenden Ideen bespielt. Auch bei diesem Thema geht es Timm mehr um die Zusammenführung der wichtigen Fäden als um seine eigene Position, die den Dingen eine Art von Ansichtssache überstülpen könnte.
Position beziehen ist ja nicht immer die beste Option. Timm tut es fast gar nicht, meist setzt er eine Beobachtung (oder eine Folge von Beobachtungen und Erörterungen) langsam in eine Behauptung um, nachvollziehbar und schlüssig. So entsteht essayistische Literatur, die ein hohes Niveau hält, jedoch ohne ihren schlichten, epiphanischen Charakter zu verlieren.
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