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Kritik

"Die Luft riecht betäubend nach Sehnsucht und Erinnerung"

Hamburg

Die Dichterin Vera Lourié - 1901 in St. Petersburg geboren, jüdische Vorfahren - wollte als Kind schon sterben, aus Liebe. Dann wurde sie 97 Jahre alt.

Damals machte sie mit ihren Eltern eine Dampferfahrt auf dem Rhein, als ein Junge sich über die Rehling lehnte, um das Wasser zu berühren. Vera hielt sich an ihm fest. Die Erwachsenen schimpften, sie könne mit ihm ins Wasser fallen und ertrinken. Doch sie erwiderte, sie wolle mit ihm sterben.

Wenn solch ein Mensch fast 100 Jahre Zeitgeschichte erlebt, Revolution, Kriege, Flucht, Deportation - dann kommt ein Schatz aus Emotionen, Bildern, Erfahrungen zusammen, der sich in ihren Gedichten und Erzählungen wiederspiegelt. Und eben in ihren Briefen, die hier erstmals in Gänze veröffentlicht sind, plus Anhang mit Dokumenten.

Im hohen Alter noch beginnt sie eine Sammlung Briefe zu schreiben, auf Deutsch; Anlass ist die Liebe zu einer um viele Jahre jüngeren Frau, für die die Beziehung zur Lourié allerdings nur eine Freundschaft ist. Vera Lourié hat diese Briefe auch erst drei Jahre nach ihrer Niederschrift abgeschickt. Der Reiz des Verliebtseins war aber, wie sie selbst sagte, die notwendige Schöpfungsenergie.

Die Briefe bestehen aus zwei Teilen: Einerseits schildert sie darin ihr aktuelles Gefühlsleben, wobei sie versucht, die Mühen des Alltags auszuklammern. Andererseits ist es ihr ein Bedürfnis, der Geliebten von ihrer Kindheit in St. Petersburg zu erzählen, ihrem Anschluss an die russische Avantgarde zu Petrograder Zeiten um Nikolaj Gumiljo, Anna Achmatowa und Ossip Mandelstam, ihrem Leben im "russischen Berlin" der 20er Jahre, zu dem auch Ilja Ehrenburg und Andrej Belyi gehörten.

Abgesehen davon, dass - wie die Herausgeberin Doris Liebermann anmerkt - die Rückblicke in die Vergangenheit nicht immer chronologisch sind (was bei dieser Ausgabe teils behutsam angeglichen wurde) liest sich das sehr gut. Eine lückenlose Erinnerung gibt es sowieso nicht und wenn immer wieder die Gegenwart aufleuchtet - eine alte Frau, liebend, mit lebendiger Erinnerung, im heutigen Berlin, körperlich schon sehr gebrechlich - dann bekommt das ganze schon dadurch eine große Plastizität.

Die wunderbaren Freundschaften, Liebschaften, aber auch Intrigen und Zickereien vor dem Hintergrund der Nazi-Herrschaft wirken fast makaber, geben aber einen guten Einblick in die Erkenntnis "Das ist das Leben".

Ein Leben, welches fast verklärt in einer wohlhabenden Familie in St. Petersburg beginnt. Die Mutter muss mit der Kutsche auf dem Weg zum Theater wieder umkehren, weil auf der Straße geschossen wird. Dann wird der herrschaftliche Eingang des Hauses zugemauert, "nach der Oktoberrevolution gab es keine Herren mehr", und alle müssen den Dienstboteneingang benutzen... Die Familie Nabokovs wohnt unweit und Nabokovs Vater, Mitglied einer demokratischen Partei, wird von einem russischen Nazi erschossen... Die Flucht nach Deutschland mit gefälschten Pässen wird wegen eines mitreisenden Spions beinah vereitelt... In den Berliner Künstlerkreisen gibt es eine große Armut. Es ist von zwei Männern die Rede, die zusammen nur ein Paar Schuhe haben und sich mit dem Ausgehen abwechseln müssen... Der Verlobte von Vera Lourié stirbt im KZ, sie selbst und ihre Mutter überleben wie durch ein Wunder...

Dass Vera Lourié ist erster Linie Dichterin ist, verwundert nicht, denn sie hat einen Blick für Schlüsselszenen und prägnante Bilder, schreibt einen direkten Stil. Die übersetzten Erzählungen, die im Anschluss an die Briefe folgen, haben noch einen etwas enthusiastischeren Tonfall, aber auch sie zeigen und beschreiben in erster Linie, kommentieren wenig, zeugen von großer Kenntnis der Figuren und ihrer inneren Dramatik.

Zu Lebzeiten hat Vera Lourié keinen Verleger für ihre Erinnerungen gewinnen können. Allerdings hat sie seit den 90er Jahren eine späte Anerkennung erfahren, gab Lesungen, wurde ins Radio eingeladen. Sie ist, abgesehen von ihrer schriftstellerischen Leistung, eine wertvolle, eine letzte Zeitzeugin dieser Epoche.

"Ich habe diese Erinnerungen Briefe an dich genannt. Du brauchst sie nicht. Warum hat man keine Kraft, sich von einem Gefühl frei zu machen, das der andere nicht braucht... Was sind meine seelischen und physischen Leiden im Vergleich zu den Weltkatastrophen, zu dem Elend, zu den Krankheiten und zum Leiden der anderen Menschen? Aber das bin 'ich'..." (aus den Briefen)

"Die Erde wird mit jedem Tag eher von der Dämmerung umhüllt. In ihrem Getön klingen Kinderjahre, Frieden und Glockengeläut. Die Luft riecht betäubend nach Sehnsucht und Erinnerung. Gedankenlos, ohne Ziel treibt man sich stundenlang herum, um dem Klang der Stille zuhören zu können.

... Endstation der Straßenbahnlinien. Müde, schwitzige Wagen ruhen hier aus, beriechen einander mit stumpfen Nasen und laufen dann wieder in die entferntesten Gegenden der Großstadt." (aus der Erzählung: Die Likörstube)

Was für eine Stimme ist uns hier lange Zeit vorenthalten worden.

Vera Lourié · Doris Liebermann (Hg.)
Briefe an Dich
Erinnerungen an das russische Berlin
Mit zahlreichen Abbildungen
Schöffling & Co
2014 · 280 Seiten · 22,95 Euro
ISBN:
978-3-89561-615-0

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