Draußen rauscht die Stadt vorbei.
Und zack, schon sind wir wieder mitten in Berlin, dem Berlin; Hort der glück- und identitätsuchenden Menschen um die Dreißig, deren Selbstverwirklichungsplan (falls vorhanden) bereits am Alltag scheitert. Bitte, bitte, nicht noch ein langweiliges Buch über junge, langweilige Menschen, die sich in der großen Stadt langweilen, aber deren Leben aus irgendwelchen Gründen als „hip“ angesehen wird. Zugegeben, das waren meine Vorurteile, als Das große Rauschen vom Verlagshaus J. Frank (aus Berlin) bei mir ankam. Nach der Lektüre der Graphic Novel von Verena Postweiler und Dieter Jüdt finde ich sie teilweise bestätigt, teilweise aber auch nicht. Zumindest die Ausgangslage ist klar: Junge Erwachsene in Berlin versuchen mit sich und der Stadt zurechtzukommen.
In 50 Prosaminiaturen liefert Das große Rauschen Alltagsbeobachtungen und -beschreibungen, die in Form und Inhalt vertraut wirken. Die kleine Schwester, die nicht mehr klein ist, kommt zu Besuch und erscheint auf einmal merkwürdig fremd. Der schlaflose Geschäftsreisende zweifelt an seinem Lebensweg. Eine flüchtige Begegnung an der Ampel hinterlässt einen unerwartet starken Eindruck. Spätestens seit Charles Baudelaires Gedicht „À une passante“ aus dem Jahre 1860 gehört Letzteres zum festen Motivkreis der Großstadtliteratur. Das soll jedoch nicht heißen, dass Das große Rauschen keine Daseinsberechtigung hat; im Gegenteil. Der Comic kann für das Genre der reflexiven Prosaminiatur, trotz vieler Vertrautheiten, als Glücksfall angesehen werden. Das liegt vor allem daran, dass sich Text und Bild hier hervorragend ergänzen.
In Frau aus Glas begegnen wir einer Verschwundenen, die sich nicht abschütteln lässt. Eine Art Widergängerin, die mit uns um die Häuser zieht, sich aber nur durch ein leises Klirren bemerkbar macht. Postweiler schildert diesen Zustand der Verunsicherung mit kargen Worten. „Es war ein Fluch oder ein Zauber – wollten wir das wissen? Wir sahen sie nicht.“ In der Dynamik einer kleinen Gruppe bleibt sie der unsichtbare Bremsklotz, der von Dieter Jüdt geschickt positioniert wird. Nur wenige Striche sind nötig, um die Frau aus Glas in ihrer Unsichtbarkeit erscheinen zu lassen. Ein schönes Paradox.
Der schroffe, distanzierte Zeichenstil ist es auch, der scheinbar belanglose Beschreibungen aufwertet und ihnen eine neue Dimension verleiht. Die Unsichtbaren problematisiert die immerwährende Opposition von Individuum und Gesellschaft, degradiert die Menschen der Großstadt lakonisch zum „Füllmaterial für das Leben der anderen“. Ein Gefühl der Isolation stellt sich allein beim Lesen dieser Worte nicht ein. Jüdts Illustrationen sind manchmal kaum mehr als Skizzen, aber die treffen meist ins Schwarze. Und so wird die Einsamkeit der Protagonisten sichtbar, die, dem Betrachter abgewandt, mit einem Teller Nudeln auf den Knien und der Fernbedienung in der Hand vor dem Fernseher fläzen.
Das große Rauschen bietet, betrachtet man seine Teile jedes für sich, wenig Neues. Im gelungenen Zusammenspiel von Text und Bild stärken sich beide Formen jedoch gegenseitig. Erst dann werden die Verflechtungen innerhalb der Texte und Figuren deutlich und bilden so ein Panorama der Großstadt. Innere und äußere Vorgänge wechseln sich ab. Transformationen von Vergangenem zu Gegenwärtigem werden sichtbar. Wie das alte E-Werk, das keinen Strom mehr erzeugt, dafür aber jetzt alles Licht der Umgebung zu absorbieren scheint. Nicht zuletzt ist dieser Comic auch eine kleine Reise vom Winter über den Sommer in den Spätherbst, vom Morgen über Tag in eine endlos erscheinende Nacht. Die reduzierte Farbpalette unterstreicht den Eindruck einer anhaltenden Dämmerung und verleiht den Figuren die Sehnsucht, aus dem Verlorensein ein Verschwinden zu machen.
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