Die Entdeckung von Donald Duck
Der Strizz-Cartoonist Volker Reiche legt mit Kiesgrubennacht im Suhrkamp Verlag seine Autobiographie vor – natürlich in Comic-Form. Gleichzeitig erzählt er ausschnitthaft einige Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte neu.
Suhrkamp
Zuerst einmal eine gute Botschaft für die Fans: Volker Reiches Cartoons leben auch in Kiesgrubennacht weiter. Bekannte Figuren wie Herr Paul, der aufmüpfige Kater, Zwergpinscher Müller und Bulldogge Tassilo scharen sich in der Rahmenhandlung um den Erzähler, der sich, stets in kurzen Einschüben, selbst bei der Arbeit porträtiert, voriges diskutiert und überlegt, was er am besten als nächstes erzählt. Das ist ein schöner erzählerischer Kniff, wie überhaupt Volker Reiche, der einen gekonnt naiven Stil pflegt, kein Autor ist, den man unterschätzen sollte. Bedrückende Szenen wie das Wohnen der Flüchtlingsfamilie auf engem Raum, die Darstellung des Vaters, dem gerne mal die Hand ausrutscht und der Mutter, die die Augen zudrückt: Das ist Material für einen in düsteren Farben gezeichnetes Nachkriegsdrama, wie man es im deutschen Fernsehen immer wieder zu sehen bekommt – bei Volker Reiche bekommt man es wortwörtlich in neuen Farben, mit einem anderen Pinselstrich vorgeführt: Am Anfang stehen eben nicht die Bomben, sondern eine knallgelbe Lederhose, die der junge Erzähler begeistert vorführt, bevor ihn ein peinliches Malheur beim Turnen ereilt. Spaß und Ernst, Slapstick und Schattenseiten der Fünfziger-Jahre-Kindheit stehen hier gleichberechtigt nebeneinander.
Wie sehr Kiesgrubennacht aber auch eine Erzählung des künstlerischen Erwachens und Plädoyer für den Comic selbst ist, stellt Volker Reiche in einer der berührendsten Panels dar, die ihn bei der Entdeckung seines ersten Micky-Maus-Heftes zeigt: „Ich war tief beeindruckt von den klaren und bunten Farben, von den wunderbaren Zeichnungen und vor allem von der Dramatik der Erzählung”, ist neben dem Bild zu lesen, auf dem der kleinen Volker mit leuchtenden Augen durch die Carl-Barks-Geschichte von Donald Duck und Gustav Gans blättert, die eine Wette über das Baden in einem gefrorenen See abgeschlossen haben.
Schon nachdenklicher tritt der erwachsen gewordene Erzähler im Jahr 1973 auf, als er, mit Revoluzzer-Bart und flottem Motorrad, nach Jahren wieder den Vater besucht, der inzwischen eine neue Familie gegründet hat und gleichsam verbittert, aber auch sentimental dargestellt ist: Aus dem herrischen Choleriker mit lockerer Hand ist nun ein verhutzeltes, etwas ungepflegtes Männlein mit dicken Brillengläsern geworden, das beim Anblick des Sohnes feuchte Augen bekommt. Der Generationenkonflikt – auch das ein typisches Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte, Abteilung 1968 – passiert hier am Kaffeetisch, an dem die Kinder mit Plastik-Dinosauriern spielen.
Volker Reiche führt in seiner Autobiographie sein komisches Talent mit einer teils dramatischen, aber auch sehr repräsentativen Geschichte des Aufwachsens in der Bundesrepublik Deutschland zusammen. Dabei entkommt er vorgefertigten Klischees und nimmt sich die Freiheit, auch die negativen Kapitel in buntesten Farben zu zeichnen. Das ist noch viel zu selten so zu sehen – und eine willkommene Abwechslung zu rührenden deutschen Fernsehspielen.
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