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Kritik

Glanz und Glitzern durch Achtsamkeit

Walle Sayer rückt die Details ins Zentrum und spinnt so Stroh zu Gold
Hamburg

Eines meiner Lieblingsmärchen und gleichzeitig das Märchen, das ich meinen Kindern niemals vorgelesen habe, ist die Geschichte von dem Mädchen mit den Zündhölzern. Von diesem armen Mädchen, das in der Neujahrsnacht erfriert, oder aber von dem Mädchen, das in der Nacht zum neuen Jahr von einer liebevollen Großmutter erlöst wird. Das Märchen erzählt sowohl die eine, als auch die andere Möglichkeit.

Während im Märchen die Zündhölzer Wunschbilder entstehen lassen, nimmt Walle Sayer winzige und scheinbar belanglose, unscheinbare Details des Alltags, so klein, dass sie in eine Streichholzschachtel passen würden, und entzündet, indem er sie genau betrachtet, ein Licht, in dem die Dinge anders erscheinen, als wir sie zuvor gesehen haben. Wunderbilder, etwas unerhört und unerkannt Schönes.

„Ein Tropfen, der die Oberfläche bricht“, steht im Klappentext von Walle Sayers neuem Buch „Was in die Streichholzschachtel passte“. Das ist bei allem poetischen Gehalt eine durchaus treffende Zusammenfassung des Konzeptes, des roten Fadens, den dieses Buch ausmacht. Es geht um winzige Details, die allzu oft übersehen werden. Sayer betrachtet diese Kleinigkeiten genau und geduldig, und indem er das so Betrachtete beschreibt, öffnen sich auf einmal neue Perspektiven. Das, was allgemein, sogar bis zum Überdruss bekannt zu sein schien, erscheint plötzlich in einem neuen Licht. Einem Licht, das die Schwingungen und Bewegungen unter der Oberfläche sichtbar werden lässt.

Genau diese Überzeugung illustriert auch die auf dem Umschlag abgebildete Zeichnung, ein von Tau benetzter Flügel einer Libelle. Durchscheinend und zart.

Sayers Prosaminiaturen, er selbst nennt sie Prosagedichte, verändern den Blickwinkel, verleihen dem Alltäglichen neue Konturen. Was sie auszeichnet ist ein genaues, geduldiges Beobachten, das seine überraschenden Ergebnisse gerade darum erzielt, weil es nicht auf Ergebnisse aus ist.

In manchen Miniaturen zählt Sayer einfach nur Dinge auf, die wir alle kennen, aber er verleiht ihnen Funktionen, oder Adjektive, die zumindest ungewöhnlich sind. Wenn er einer Scheunenwand eine „Fellfarbe“ verpasst, oder eine Bauruine als „geltungsbedürftig“ beschrieben wird, verschiebt sich die Blickachse, verleiht allem ein wenig mehr Lebendigkeit.

Ob es sich um die Geschichte eines Seiltänzers handelt, oder um die Beschreibung eines Hochspannungsmastes. In diesen Miniaturen ist alles poetisch aufgeladen.

Dabei gehen Feierlichkeit, hoher Ton, Poesie und Humor Hand in Hand.

Sayer findet wunderbar leichte Bilder, auch für ganz schwere Themen: Wenn er z.B. über den Tod schreibt:

„Im Hintergrund, zwischen dem stämmigen Ausschnitt, der Schatten des vom Blaulicht Verscheuchten.“

Walle Sayer beschreibt die Phänomene so, dass „die Dinge ihr Antlitz zeigen“. Weil sie eine Geschichte haben, und nicht nur tote Materie sind. Keine Gebrauchs-, sondern Lebensgegenstände.

Unter diesen Voraussetzungen kommt es mitunter vor, dass die Gegenstände uns überlegen sind, uns durchschauen:

„Durchschaut uns die Maserung der Tischplatte, nachdem der Schreinerfreund darüber streicht und von seinem Lieblingsholz spricht, bei welcher Mondphase es eingeschlagen werden musste, wie lange es zu lagern hatte.“

Durch alle Texte ziehen sich wie ein roter Faden die Hinweise, Beweise dafür, wie groß das vermeintlich Kleine eigentlich ist.

Auch in den schwächeren Texten, die einfach Gegensätze gegeneinander ausspielen, spürt man die Freude, die Lust am Spiel.

Seit über 30 Jahren veröffentlicht Walle Sayer Bücher, seit 16 Jahren beim Verlag Klöpfer & Meyer. Schon immer hat ihn dabei seine Umgebung interessiert, die Geschichten um ihn herum, im Kindergarten, wo er einige Jahre lang die Kinder von Asylbewerbern betreute, oder im Altenheim, auch dort hat Sayer eine Zeitlang gearbeitet. Und wenn er sich auch immer schon in seinen Texten bewusst gewesen ist, dass „Dinge, die wir sehen, Dinge sind, wie wir sie sehen“ (Wallace Stevens), spricht er selbst von einer zunehmenden „Schärfeeinstellung, die das Älterwerden vornimmt.“

Was Walle Sayer seine Leser lehrt, ist kaum sichtbare, aber dennoch vorhandene Phänomene aufzuspüren, unter die Oberfläche zu sehen, und sich auf keinen Fall mit dem zufrieden zu geben, was der erste Blick hergibt. Erst wenn man sehr genau und geradezu hartnäckig hinsieht, begreift man:

„Daß auch ungewollte Wunschkinder geboren werden. Daß selbst die Schwermut ihre Südseite hat.“

Ebenso wie das Märchen handeln auch Sayers Miniaturen davon, dass man auf den ersten Blick nur die Oberfläche sieht.

          „Genauigkeit, ins Unbestimmte führend“

Diese Texte sind ein Spiel mit der Wahrnehmung und den Widersprüchlichkeiten, aus denen sich ein Leben zusammensetzt.     

Walle Sayer zaubert, wie die Zündhölzer des armen Mädchens im Märchen, Gesichter ins Wasser, Wunder in den Alltag. Wie hier Kleinigkeiten ins Blickfeld gerückt werden, hat etwas Märchenhaftes. Nicht zuletzt, weil es Sayer bei den gelungensten Texten tatsächlich schafft, die magischen Momente, die uns als Kinder alltäglich waren, erneut aufleuchten zu lassen.

Walle Sayer
Was in die Streichholzschachtel paßte
Klöpfer & Meyer
2016 · 124 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-86351-411-2

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