Die Sprache an- und un- und ausgezogen
„Jeden Tag sucht jemand etwas / in den verwüsteten Ecken des Lebens, / und jeder findet Nichts.“ Das Ende einer Spirale stösst sich immer am Nichts, das im Prinzip nur eine metonymische Umschreibung für die letzte Substanz jedes Ideals und jeder Vorstellung ist. In unserer beschädigten Zeit ist die Omnipotenz der Wahn, der nach überall hin die Leere überwuchert und uns impotent macht für das Eigentliche. „Jeder schließt gleichgültig die Augen / vor dem Echo der verlorenen Stunden.“
Wiebke Treblin nicht. Sie verliert sich nicht, auch wenn sie alles verliert und im Nichts sucht und dort eine „bunte Tüte Ewigkeiten“ findet. Dafür ist - unter anderem auch – das Gedicht da; nicht leise sein zu müssen, wo die anderen Wahrheiten bellen und die laute Welt ihr Lichtspiel treibt. Das geht tief. Bis in die Nacktheit hinein. Es ist der eigene Tag und es sind die Nächte im Eigenen, die sich melden und in die Zeilen wollen. Es ist der von den Lügen befreite Moment, den wir suchen und der im Gedicht sein soll, wenigstens, in unserer Sprache.
Wenigstens und über uns hinaus mit dem Gedicht. Immer begleitet von der Hoffnung, es möge seine sorgsam gefügten Geheimnisse preisgeben, jemanden finden, der in diese Sprache findet und in die in ihr enthaltenen Wunder (und Wunden). Im Gedicht ist auch der Widerspruch und das Leiden am Widerspruch.
„Sprich nicht mehr von Herzversagen / niemand glaubt dir solche Floskeln.“ – „Ich muss wieder schlachten gehen. / Bekenntnisse frisch aufgeknackt.“ Die Schmerzen an der Wahrheit sind erträglicher als jedes Leid der Lüge. „Leicht löscht Lust Leiden“ – ja, es löscht für einen Moment, aber der Schmerz kommt zurück: „der Alltag ist dein Nagelschuh.“
In etwa hier schwingen die Gedichte von Wiebke Treblin, die nicht alle restlos gelungen sind, aber viele gute Momente und schöne Ideen beinhalten, wie mit der Welt umzugehen ist, wenn man ihr schreibend wahrhaftig begegnet und das ist heute nach wie vor mindestens genauso wichtig, wie jedes ausufernde lyrische Taschenspiel, für das man literarische Preise erhält. Wir brauchen die Gedichte, die den doppelten Boden der Wirklichkeit aufdecken und in Rattenkot und Mäusespur, in angenagten Ködern lesen, genauso, wie das filigran verleimte Parkett, auf dem man artistische Tänzchen wagen kann. Beides gehört zu uns, wir sind multidimensionale Wesen mit Höhen, Tiefen, Oberflächen, Räumen, in denen Welt geschieht, und beides gehört auch in die Lyrik. Und es ist nicht ausgeschlossen beides gleichzeitig zu tun: die tänzerische Bewegung auf dem Parkett der Demontage und Suche. Wie es Wiebke Treblin – nicht immer faszinierend – aber doch oft aufreizend und manchmal hinreißend tut.
Ihr Band „ungezogen“ ist im Sommer 2006 als limitierte, numerierte und signierte Erstausgabe erschienen in der Corvinus Presse, Berlin und beinhaltet drei wundervolle handkolorierte Zeichnungen der Autorin. Die Broschur ist handgesetzt und fadengebunden und ein weiteres Kleinod aus dem Verlag von Hendrik Liersch, der in seinen über 200 bibliophilen Büchern und Büchlein so manchen bislang ungehobenen Schatz beherbergt.
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