William T. Vollmanns Traum von Amerika
Hüpft einem ein Bison entgegen, täte man gut daran, sich wie ein schmiegsamer Grashalm der Macht seiner Masse zu beugen. Entsprechend verhält es sich mit William T. Vollmanns jüngstem Roman, einem Ungetüm aus einem Stamm von Ungetümen, dem man sich kaum aufrecht gegenüberstellen möchte, wäre man nicht dem eichenen Trotz verschrieben. Im Folgenden findet sich also eine Übung in eichenem Trotz, bestenfalls in der formalen Prägung eines in Zartrosa gehaltenen zerstampften Himbeermacarons.
Vollmann fräst und kittet seit bald drei Jahrzehnten an einer selbstverständlich siebensäuligen Kolonnade von Romanen namens Seven Dreams: A Book of North American Landscapes, die insgesamt die Begegnung der nordamerikanischen Ureinwohner mit europäischen und US-amerikanischen Siedlern vorstellen soll. Unter den bisher veröffentlichten Säulen, Pardon! Büchern finden sich zum Beispiel je eines über die Landung der Wikinger in Nordamerika und die Jamestown-Siedler in Virginia (letzteres ist berüchtigterweise in elisabethanischem Englisch gehalten). Dabei lässt sich der gigantistische Gestus dieses Schriftstellers am besten daran erfassen, dass er in der gleichen Zeitspanne, sozusagen als Beiwerk, seinen bekanntesten und auch nicht schmalen Roman Europe Central sowie die dreitausendseitige Abhandlung über Gewalt und Krieg Rising Up and Rising Down verfasste. Aus dem gleichen Guss hat Vollmann nun auch den fünften der sieben amerikanischen Träume gestürzt, The Dying Grass.
Das Thema des Romans ist der Nez-Percé-Krieg, in dem die amerikanische Armee unter General Howard im Sommer 1877 den indianischen Stamm der Nez Percés aus seinen Ländern im Nordwesten der heutigen USA zu vertreiben und in ein Reservat einzutopfen versuchte. Die Nez Percés, insbesondere ihr bekanntester Anführer, Chief Joseph, erwiesen sich dabei nicht nur als strategisch eher überlegen, sondern den wiederholt vertragsbrüchigen Eindringlingen auch als unnachgiebig, beides Umstände, die die selbstgerechte Arroganz der US-Amerikaner zumindest stellenweise erschütterte. Zuletzt blieb den Nez Percés aber doch nichts als der Fluchtversuch vor dem brachialen Zugriff in Richtung Kanada, ein Versuch, der scheiterte und in der Arretierung der meisten verbliebenen Nez Percés endete.
All dies schildert der Autor. Nur handelt es sich natürlich nicht um eine landläufige Schilderung, sondern eben um einen „Traum“ mit der formalen Eigenschaft der impressionistischen Unmittelbarkeit o. Ä. Vollmanns erzählerischer Statthalter, William the Blind, erfühlt sich die verschiedenen Protagonisten wie von innen, sodass er im Ausdruck die Staffelung der Gedanken und Regungen der Figuren direkt nachvollziehen kann. Die Prosa scheint sich dabei am projective verse der Black Mountain Poets zu orientieren: Der Zeilenumbruch findet dann statt, wenn sich eine Sinneinheit geschlossen hat, und je nach Abgelegenheit des Denkvorgangs wird seine sprachliche Wiedergabe weiter in die Mitte der leeren weißen Leere der Chorbleichung eingerückt.
Der Traum gewährt beiden Kriegsparteien etwa gleich viel Raum, aber die dafür gewählten Erzählweisen variieren markant. Kommen die US-Amerikaner zu Wort, herrscht zumeist Burleske, Schimpf und Fluch in der primitiven Dümmlichkeit, mit der sich die diversen Colonels ihr Leben vertreiben. Die Nez Percés wiegen sich dagegen im elegischen Chorgesang, etwa wie die Perser des Aischylos. Der Kontrast ist in Teilen so überdeutlich, dass man schon das Klischee der wenig individualisierten poetischen Wilden zu wittern beginnt. Doch kann der Autor unsere überreizten Nasen dadurch beruhigen, dass er den Familienverband um Chief Joseph plastisch hervortreten lässt. Zudem ergötzen sich Vollmanns Nez Percés, jenseits aller Niedlichkeit, genauso freudig an Vergewaltigung, Totschlag und Leichenschändung wie die US-Amerikaner. Schließlich stellt er General Howard als durchaus nachdenklich und behutsam dar, wenn er auch in seiner Christlichkeit gönnerhaft und in seiner Güte herablassend wirkt. So ergibt sich trotz allem ein nuanciertes Bild der zwei Seiten.
Der vielleicht zugänglichste Akteur ist Leutnant Wood, dem, ganz wie General Howard, der Krieg gegen die Nez Percés zuwider ist, der aber, im Gegensatz zu eben jenem Generalmusikdirektor, wenig Trost aus einer möglichen missionarischen, also moralisch-guten, moralisch-schönen Endabsicht der Morderei zieht. In Wood sieht man zudem ein Spiegelbild des Erzählers, revidiert er doch kontinuierlich im Kopf verfasste Briefe an seine zukünftige Frau, deren Formulierungen er diejenige Ehrlichkeit abgewinnen möchte, die er eigentlich durch Übergriffe an indianischen Frauen schon längst verspielt hat. In einer ähnlichen Lage erscheint auch Vollmanns Erzähler in seinen endlosen Versuchen, den Krieg von neuem, erneut, immer wieder zu artikulieren, um so dem Leser ein treues Abbild zu verschaffen, obwohl er im Grunde seine kompromittierte Haltung als Nachfahre der US-amerikanischen Invasoren ahnt.
In dieser Ahnung unterscheidet sich der Erzähler in The Dying Grass vom lyrischen Ich der Vorlage des Romans, Walt Whitmans Leaves of Grass. Der Romantitel selbst lässt diese Verbindung zum amerikanischen Nationalgedicht schon offensichtlich werden, aber um solche Subtilitäten nicht schutzlos den natürlichen Gewalten der oberflächlichen Leserschaft zu überantworten, führt der Romancier gleich zu Beginn Whitman persönlich in den Text ein (s. 3), dass alle Donnerwolken des exegetischen Zweifels sich lichten mögen. Der Ton, den William the Blind daraufhin anschlägt, ähnelt demjenigen Whitmans in seiner Überschwänglichkeit und im Verzicht auf eine allzu feine lyrische Klinge. Außerdem erschließt sich die Verwendung von Elementen des projective verse, wenn man den Roman nicht in erster Linie als Proxatext, sondern als Langgedicht im Dialog mit Leaves of Grass liest.
Anders als Whitman, wie er zumindest als Popfigur rezipiert wird, legt uns aber Vollmann einen Text der Rückbesinnung, nicht des Aufbruchs vor. Die Weitläufigkeit und poetische Trance des Romans dienen nicht dem Ausdruck prophetischer Ekstase, sondern dazu, Gräuel und Trauer einzufangen, wie sie den Aufstieg der USA begleitet haben und begleiten. Alle Grausamkeiten, die in späteren Kriegen gegenüber vermeintlich zivilisatorisch vernachlässigbaren Kulturen begangen werden würden, hallen in Vollmanns Behandlung der Vertreibung der Nez-Percés wider. Bei ihm wird nicht die herrliche Vielfältigkeit der Einfachheit von Grashalmen gefeiert; bei ihm stirbt das Gras ab. Treffend schließt er den Roman mit einer Chronik des Aussterbens der Bisons, einer weiteren absichtlich simplen Metapher für die weitgehende Vertilgung eigenständiger indigener Kulturen in Nordamerika. Vollmanns Traum von Amerika ist so eine düstere Entgegnung auf die Whitmansche Schwärmerei, nicht in allen Teilen verfeinert und delikat, aber dezidiert und literarisch kompromisslos.
Wir haben das Terrain der Himbeernoten verlassen!
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