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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Bomben und Beethoven-Klänge

Zeina Abirached erinnert sich an ihre Kindheit im Libanonkrieg: Eine Graphic Novel wie eine Diashow
Hamburg

Die Kindheit in den Zeiten des Kriegs: Was davon hängen bleibt, das sind nicht die großen historischen Ereignisse, sondern Momentaufnahmen wie Polaroid-Bilder. Mehr als Radionachrichten über Bombenanschläge sind es Klänge, Gerüche und taktile Eindrücke, die der kindliche Neocortex abspeichert. Zeina Abirached liefert mit ihrer neuen Graphic Novel einen eindrücklichen Beweis dafür. Nach ihrem 2007 erschienenen Buch „Le jeu des hirondelles“ („Das Spiel der Schwalben“) widmet sie sich in „Ich erinnere mich“ erneut ihrem Thema, ihrer Kindheit im Libanon zur Zeit des Bürgerkriegs. Um den Leser an ihren trotz aller schrecklichen Umstände oft amüsant-skurrilen Erlebnissen teilhaben zu lassen, gewährt sie ihm einen Blick ins mentale Fotoalbum und spielt „Ich erinnere mich“. Ihre Erinnerungen illustriert sie mit verspielten Details wie die Einschusslöcher in einer Karosserie, die Sternen in einem Nachthimmel gleichen, und sie zeichnet die Stationen ihrer Flucht nach wie die Felder eines Monopoly-Spiels. Dieser Zugang ist neuartig und verquer, vielleicht auch ein wenig befremdend. Vor allem aber ist es erfrischend, wie Abirached an ihre Familiengeschichte herangeht - völlig unverkopft und ohne persönlichen Kommentar zu Politik und Zeitgeschehen. Auch das unterscheidet Abirached von Marjane Satrapi.

Mit der Autorin des zum Klassiker avancierten „Persepolis“ hat sie die von Kriegswirren und Krisen geprägte Kindheit im Nahen Osten gemein, und wie Satrapi hat auch Abirached Paris zur neuen Heimat erkoren. Natürlich fällt als erstes die Ähnlichkeit der Zeichenstile ins Auge. Auch mit viel gutem Willen kommt man nicht umhin festzustellen, dass man vieles so oder ähnlich bereits kennt: die schwarz-weißen Bilder, die schlichten, stilisierten Figuren, das spartanische Layout. Abirached und Satrapi verbindet auch der unverkrampfte Ton; doch der Erzählstil der gebürtigen Libanesin ist ein ganz anderer. In „Ich erinnere mich“ versucht sie sich erfolgreich an einer Art „visueller Stream of Consciousness“, der sich elegant ins Gesamtkonzept fügt, mit seinen innovativen Grafikelementen und den verschieden großen Panels. Vor allem aber gelingt es der Künstlerin, mit wenigen Strichen eine ganze Palette von Emotionen aufs Papier zu bekommen. Die Menschenwärme in ihren Comics ist es, die Abirached von Kollegen ihrer Zunft abhebt.

Wer nicht weiß, dass Zeina Abirached sich für ihr Buch vom gleichnamigen Titel des französischen Oulipo-Autors Georges Perec inspirieren ließ, könnte ihre Herangehensweise für ein wenig naiv halten. Weit gefehlt. In seinem 1978 erschienenen Buch reiht auch Perec scheinbar banale Erinnerungen an seine jungen Jahre aneinander. Die mögen zwar unbedeutend für die Weltgeschichte sein, doch als Puzzlestücke der eigenen Biographie sind sie umso wesentlicher. Abiracheds fragmentarisches Buch baut auf demselben Prinzip auf. Allerdings ist die Künstlerin der Psychoanalyse mit ihrer freien Assoziation näher als Perecs potenzieller Literatur mit ihren oft „mathematischen“ Wortspielen. Und gerade weil die Autorin ganz ohne Strukturzwang ihre Gedanken treiben lässt, bringt sie so seltene wie seltsame Story-Juwelen zum Vorschein, wie etwa die von der Granatsplittersammlung ihres Bruders. Anekdoten wie diese sind symptomatisch für Abiracheds Erzählen. Es gibt den ironischen, nie aber den bitteren Blick zurück.

Mit Leichtigkeit nimmt die Mittdreißigerin die Perspektive des Mädchens ein, das im Sturmzentrum eines Bürgerkriegs aufwuchs, dessen Dimension sie damals noch gar nicht erfassen konnte. Beirut ist und bleibt für sie aber auch als ehemaliger Kriegsschauplatz ein Ort der leisen Sehnsucht. Ein Ort, dessen Straßennamen und Viertel sich ebenso sehr ins Gedächtnis eingebrannt haben wie die Massaker, die ein gewisser Monsieur Assaad in seinem Damensalon anrichtet. Der Leser darf beruhigt sein: Gemeint sind damit tatsächlich nur die ruinierten Frisuren der Frauen.

Zeina Abirached darf man keine Teilnahmslosigkeit unterstellen, was leicht passieren kann angesichts ihrer minimalistischen Bilder, die nicht wirklich subversiv sind. Dann aber muss man sich wieder in Erinnerung rufen, dass es ihr um eine politische Deutung der Ereignisse auch nicht in erster Linie geht. Der Kriegsalltag wird unter ihrer „Federführung“ vielmehr zur Mikrogeschichte: Die erwachsene Zeina erinnert sich an den Geruch von Pfeffer in der Notunterkunft; daran, wie Beethoven und Berlioz die Drohnen und Bomben übertönten; an die alte, glänzende Verpackung von KitKat. Die Erinnerung an die zerschossene Karosserie liegt gleich neben der Erinnerung an das Geräusch, das die Kassetten machten, wenn man sie schüttelte. Und schließlich die erste richtige Dusche nach Kriegsende. Viele erinnerte Szenen sind reine Wahrnehmung, reines Gefühl. Trotzdem entbehren die vignettenartigen Rückblenden nicht eines wunderbar subtilen Humors, der niemals in blanken Zynismus kippt. Die Graphic Novel ist weder speziell für Kinder noch für Nahost-Experten geschrieben worden, Abiracheds große Kunst liegt aber darin, ihre Geschichte so klar zu bebildern und gleichzeitig so hintersinnig zu erzählen, dass sie sowohl ältere als auch jüngere Leser in ihre Welt mitzunehmen vermag, die so farblos gar nicht ist.

Es spricht zweifellos für den Künstler, wenn unterm Strich die Kürze eines Werks das einzige große Manko ist. Der vorliegende Band ist nur etwa halb so dick wie „Das Spiel der Schwalben“ - übrigens Pflichtlektüre für jeden, der ein wenig mehr über die jüngere Geschichte Libanons wissen will, und die Menschen, die Abirached in ihrem neuen Band in liebevollen Zeichnungen verewigt. Eine kühne Prognose: Das wird jeder sein, der das Werk der jungen Künstlerin jetzt neu kennenlernt.

„Ich erinnere mich“ mag vielleicht zu kurz sein, um Lesestoff für mehr als eine Bahnfahrt zu bieten. Der Band ist aber zu pointiert und detailverliebt und klug, um nach der Lektüre in Vergessenheit zu geraten.

Zeina Abirached
Ich erinnere mich
avant
2014 · 96 Seiten · 14,95 Euro
ISBN:
978-3-939080-99-2

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