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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Das Rülpsen der Boas

Die Kurzgeschichten der ungarischen Autorin Zsófia Bán bestechen durch überraschende Kippfiguren
Hamburg

Eine gute Kurzgeschichte, so kann man es jedes Jahr aufs Neue bei der Eröffnungsrede zum MDR-Literaturwettbewerb hören, ist wie ein Eisberg: lediglich ein Achtel ist sichtbar, der Rest liegt im Verborgenen. Und diese von Ernest Hemingway stammende Iceberg Theory besagt auch, dass es eben jenes kunstvoll Ausgelassene ist, das der Leser genauso stark empfindet, „als hätte der Autor es zu Papier gebracht.“

Die 1957 in Rio de Janeiro geborene, ungarisch stämmige Autorin Zsófia Bán erweist sich in ihrem Erzählband Als nur die Tiere lebten als ausgemachte Meisterin dieser so schwierigen Form, in der eine ganze Lebensgeschichte auf allerkleinstem Raum hindurch schillern und sichtbar werden kann. Dieses Kunststück gelingt der Autorin u.a. durch gekonnte Raffungen, schön gereihten, schier endlosen Nebensatzschleifen.

Und einige Jahre später, als der Mann, der ihr nur auf der Konzertbühne ganz und gar gehörte, am Gipfel seiner Kariere Arm in Arm mit seiner Ehefrau über die geöffnete Grenze schritt und sie und das Land verließ, musste sie sich nicht vollständig erholen, weil der Straßenbahnfahrer zu gute Reflexe gehabt hatte und die von Schlafmitteln auch bei Tage benommen über die Straße gehende junge Frau nur gerade soweit streifte, dass sie in der Lage war, das Krankenhaus auf eigenen Füßen zu verlassen und sich in ein Taxi zu setzen, das ihr Marci bestellt hatte.

Ganz en passant und unaufgeregt erzählt Zsófia Bán von den großen Dramen, die ein Leben umstürzen lassen, dem alles entscheidenden Kippmoment. Von dem Fötus z.B., der bei diesem Unfall, von einem Eisenstück durchbohrt worden ist, so dass es der Protagonisten danach ergeht, als hätte sich auch in ihrem Gehirn, in sämtlichen Molekülen ihres Körpers ein eiserner Vorhang niedergesenkt. Eine Künstlerxistenz im kommunistischen Ungarn der fünfziger Jahre,  zusammengefasst in nur einem einzigen Satz, oder wie es an andere Stelle so schön heißt: Ihr ganzes geliehenes Leben war in so einen Satz hineingezwängt.

Während mit den Inhalten auf engstem Raum jongliert wird, ist die Sprache umso satter. Hier sitzen die Vergleiche: Maja bemühte sich, die Worte so neutral wie möglich auszusprechen, und das Ergebnis war, dass sie wie ein Fernsehansager redete, der mit Depressionen zu kämpfen hat. Die verwendeten Bilder sind immer wieder bestechend schön: Sternengucker, so wurde die Lieblingskneipe ihres Vaters in der Umgebung genannt, weil die, die sich nach der Arbeit hier die Kante gaben, alle vor der Ladentür standen und den Boden der Bierflasche Richtung Himmel hielten, als würden sie durch Fernrohre schauen.

In Ungarn oder Brasilien angesiedelt, sind es zumeist zwei parallel verlaufende Handlungsstränge, die Zsófia Bán so raffiniert zusammenführt, dass dem Leser erst auf der letzten Seite aufgeht, dass hier eine Frau die ganze Zeit während eines interkontinental Flugs, neben ihrem Peiniger aus der Kindheit saß, der sie nicht wieder erkannte, sie aber sehr wohl ihn.

Es sind – und dies ist ungewöhnlich – immer wieder die Erinnerungen, die die Protagonisten vor dem Versteinern bewahren. Diese Alpträume aus der Vergangenheit, die einen heimsuchen, werden in der Erzählung Gift mit dem Rülpsen der Boas verglichen. Sie sind ein fürchterliches Geräusch. Und doch kann die Protagonisten, eine Hutverkäuferin, nicht umhin jedes Wochenende den Zoo aufzusuchen und sich erst bei der vertrauten Berührung, dem Spiel mit den Schlangen der Vergangenheit, wieder lebendig zu fühlen. Eine Art umgekehrte Medusa, die uns lehren will, dass die Literatur, wie das Schlangengift, ein tödlicher Stoff ist, aus dem man aber auch Medizin herstellen kann.

Eine großartige Übersetzungsleistung hat Terézia Mora erbracht. Die 1971 in Sopron/ Ungarn geborene Autorin, die sich vor allem als Übersetzerin Péter Esterházys verdient gemacht hat, wurde 2013 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

Zsófia Bán
Als nur die Tiere lebten
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
Suhrkamp
2014 · 207 Seiten · 22,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42424-7

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