Buch der Lieder, XXIV
Ich unglückselger Atlas! eine Welt,
Die ganze Welt der Schmerzen, muß ich tragen,
Ich trage Unerträgliches, und brechen
Will mir das Herz im Leibe.
Du stolzes Herz! du hast es ja gewollt!
Du wolltest glücklich sein, unendlich glücklich
Oder unendlich elend, stolzes Herz,
Und jetzo bist du elend.
Atlas und Ironie
Atlas en ipse laborat / vixque suis umeris candentem sustinet axem.
Ovid, Metamorphosen II, 296f.
Heinrich Heine war nicht nur ein ironischer Literat, sondern auch ein Künstler der Ironie. Die Werkstoff- und Materialkunde, die Bedeutungszuschreibung via Material und Medium, die die neuere bildende Kunst prägt, ist so neu nicht, und hat gerade, was die literarischen Materialien anbelangt, eine reiche Tradition. In diesem Sinne hat auch Heine in seinen Versen immer wieder eine – man könnte sagen „Theorie der Ironie“ entwickelt, wenn das nicht so völlig unironisch und vielhundertseitig klingen würde. Denn Sprechen über Ironie muss selbst ironisch sein. Mit Friedrich Schlegels Über die Unverständlichkeit besitzt die deutsche Sprache hierin ein Juwel. Aber auch wenn Heine diese Disziplin samt ihrer romantischen Choreographien wohlweislich nutzte, unterscheiden sich seine Aussagen, seine Thesen zur Ironie doch stark, wenn man etwa die romantische Ironie (die so gut wie ausgestorben ist) vergleicht mit dem, was Heine im Buch der Lieder ausbreitet. Sagen und zugleich das Gegenteil sagen, diese rhetorische Figur ist zwar keine „transzendentale Buffonerie“ mehr, aber Heines lyrische Äußerungen dazu stehen deutlich in deren Tradition der Selbstreflexion, dass ein poetisches Werk auch seine Theorie enthalte.
Das Buch der Lieder ist bekannt für seine ironischen Gedichte, hier waltet der berühmte Heine, der Autor des „Doch das Holz ist gar zu teuer“, des „Ich wollt, er schöss mich tot.“, des „Sie waren längst gestorben“ und des „Madame, ich liebe Sie!“. Hier, neben diesen berühmten ironischen Messerstichen, schwelgt das Ich im teils gleißenden, überspannten Lyrismus des „Du bist wie eine Blume“ oder im gelingenden, bis zur erneuten Unmittelbarkeit gespannten „Schönste Sonne unter den Mädchen, / Schönstes Mädchen unter der Sonne!“ Hier ist der nachträglich missbrauchte Heines des „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“, und die Kontinuität der Problematik im „sterbenden Fechter“ (XLIV). Diese bekannten, erwähnten Verse sind alle in der Heimkehr, dem dritten Teil des Buchs der Lieder, versammelt, wo sich unter der numerischen Überschrift XXIV auch das Gedicht vom Atlas findet.
Der Zyklus markiert das Gedicht durch die Absenz des Reimes. Von den 88 durchgezählten, liedhaften Gedichten reimen nur XXIV, XXXI (Deine weißen Liljenfinger), LXIII (Wer zum ersten Male liebt) und LXXXIV (Zu Halle auf dem Markt) nicht, und auch diese anderen drei sind nicht umsonst also markiert. Sie bilden zentrale Zellen der Deutlichkeit zu den Themen der Kritik, der Liebeskonzeption und des poetischen Bildvorrats, wie dies der Atlas für die Reflexion der Ironie leistet.
Der Atlas ist unter den Gedichten nicht deshalb ein besonders ernstes Gedicht, weil es reinrassiger traurig wäre, melancholischer, gelahrter, kosmologischer als die Mehrzahl der anderen. Aber in der Grundspannung des Zyklus, in den Reibungen der von Heine angelegten Nachbarschaften ist dieses ein Gedicht, das auf besondere Art und Weise Ernst macht mit der Technik des Zyklus; nun geht es für einen Moment des Innehaltens um die Ironie selbst, nicht um die Praxis der Ironisierung. Denn es ist nicht entscheidbar, wie das Gedicht zu verstehen ist, der Leser muss abwägen, ob alles, was hier gesagt wird, wörtlich zu nehmen oder ins Gegenteil zu wenden ist. Der Effekt der Schlichtheit und der Sparsamkeit ist in diesen acht Versen eben nicht Präzision, sondern äußerste Biegsamkeit: völlig glatt und ohne dass sich im Text etwas widersetzen würde, lässt sich das kurze Gedicht als Ganzes drehen und wenden. Das Eskalationspotential dieser Bewegung liegt nur im Kontext der Heimkehr und der Zyklus dringt durch die numerische Titelgebung in jedes Gedicht als Einzelnes ein. Ist der Atlas das traurigste oder das verlogenste, höhnischste Gedicht der Heimkehr? Gleich, welchen Begriff von Authentizität man an welche Instanz des Gedichtes legt, diese Frage lässt sich aus dem Gedicht heraus nicht beantworten.
Der Leser wird also zum Atlas gemacht, er muss diese Deutung auf seine Schultern nehmen. Besser gesagt: nur auf eine. Auf welche Schulter er das Gedicht nehmen will, ist seine Entscheidung. So wird der Leser (unwillkürlich ein erstes Mal, und schließlich auch ein zweites Mal) zu dem, der da im Gedicht „Ich“ sagt; so wird es schwieriger, sich der Entscheidung für eine Schulter zu enthalten. Das Gedicht nennt in der zweiten Strophe, was der Auslöser für die Qual des Atlas gewesen ist: eine radikale Entscheidungssituation, zwischen nur zwei sich radikal abstoßenden Zuständen (sich abstoßend weil radikal, radikal weil sich abstoßend). Qual und Folgequal bezeichnen die Zustände des Atlas; es geht um Grundsätzliches, und Spezifisches oder gar Gründe werden nicht gegeben. Hier lässt sich ein feiner Unterschied zwischen lyrischem und lesendem Atlas feststellen: die Qual und Folgequal des letzteren (der ja durchaus heute vor einem Buch sitzt, da gibt es nicht zu rütteln) ist ein Stückchen klarer konturiert: als sein Akt der Bedeutungszuschreibung in einer Welt, in die die Ironie eingetreten ist.
Der Zusammenhang zwischen Buchstabe und Geist ist verwischt und aufgehoben, die Offenheit der sprachlichen Welt ist hereingebrochen, und neben dieser sprachlichen Welt hält sich kein Rest nichtsprachlicher Welt. (Das mag hart klingen, gleichsam vordatiert, aber das steht auch schon in den Xenien und bei Novalis, um nur zwei zu nennen, und ist als Reserve des Gedichtes nicht unplausibel. Eher könnte man andersherum die These darstellen, dass so erkannte Sprache zu dem mythischen Wissen gehört, dass die Erde in den Achsen hält.) Entscheidungssituationen und Bedeutungszuschreibungen, tagtäglich in Hundertschaften vorzunehmen, das ist das Leben des modernen Atlas, obwohl diese Praxis in ihrer praktischen Trennschärfe theoretisch kaum mehr zu rechtfertigen ist, gut unmetaphysisch allewege. Beginnt der Globus der Qual, sich auf den Schulter des besiegten und bestrafen Titanen leicht zu bewegen, beginnen wir, eine Allegorie der Dekonstruktion zu zeichnen.
(Dieses Ausmaß des Gedichtes scheint Schubert angedeutet zu haben, wenn er in seiner Vertonung den zweiten Vers in der generalisierenden Verkürzung „Die ganze Welt muss ich tragen“ wiederholt.)
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