Lesart
Hertha Kräftner* 1928† 1951

Ereignis am frühen Morgen

Im Hotel Jeanne d'Arc
erschraken die Mieter im Morgenschlaf,
weil ein Mädchen im Treppenhaus lachte.
Es hatte beim Weggehn
die Strümpfe auf Nummer sieben vergessen,
unter den Bändern der schwarzen Gitarre;
aber es lachte nicht darum,
sondern der Pförtner
stand in der marmornen Halle,
und auf dem Kappenrand las sie:
Jeanne d'Arc.
Darüber lachte sie so, über den Namen
und weil sie dabei an Nummer sieben dachte
(ein Zimmer mit zwei Betten
und einer Waschschüssel aus Porzellan).
Sie lachte noch unterm Tor,
daß die Mieter erwachten,
aber draußen im Februar wurde sie still,
als sie merkte, sie hätte die Strümpfe vergessen,
unter den Bändern
der verstimmten Gitarre,
in einem fremden Zimmer
im Hotel Jeanne d'Arc.

 

 

Hertha Kräftner, Das Werk, hg. v. Franz Probst, edition roetzer Burgenländische Bibliothek,
Eisenstadt 1977, S. 42

Hertha Kräftner lacht: Februar im August und ein Hotel überquert die Seine.

In Österreich melden sich in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren einige bemerkenswerte junge Autorinnen zu Wort, die nach dem Zivilisationsbruch für sich einen Anfang suchen. Diese in den zwanziger Jahren Geborenen suchen Perspektiven, sich den politischen und (alltags-) kulturellen Kontinuitäten des Nationalsozialismus zu widersetzen. Ilse Aichinger (*1921), Friederike Mayröcker (*1924), Ingeborg Bachmann (*1926) treten mit eigensinniger Literatur in die Öffentlichkeit. Und mindestens noch eine vierte gehört in diese Reihe: Hertha Kräftner (*1928). Sie ist nicht vergessen, aber längst nicht so bekannt wie ihre drei Kolleginnen. Dies liegt wohl auch daran, dass sie nur 23 Jahre alt wurde und ihr Werk aus Gedichten und Kurzprosa von geringem Umfang ist.

Das Ereignis am frühen Morgen zeigt die Eigenwilligkeit ihrer Lyrik. Das Gedicht korrespondiert mit einer Passage aus einer Sammlung poetischer Skizzen, die ihren Parisaufenthalt im August 1950 dokumentieren, dem Pariser Tagebuch:

Sie gingen bald wieder und saßen bis drei Uhr früh am Montparnasse. Sie zählte die Schalen Kaffee nicht. Als sie zurückgingen, blieb er vor einem Haus stehen und sagte: „Hier wohne ich"... Er hielt den Türknopf in der Hand. Rue Blomet, Hotel Jeanne d'Arc. Da lachte sie. Hotel Jeanne d'Arc... Sie ging nicht mit, sie fand es zu absurd.1

Die Rue Blomet liegt im 15. Arrondissement, ein Hotel Jeanne d‘Arc gab (und gibt) es allerdings nur jenseits der Seine im 4. Arrondissement, ein paar Schritte von der Place des Vosges entfernt. Es kann sein, dass die Dichterin das Hotel auf Streifzügen durch den Marais gesehen hat und wegen seines Namens dahin verlegt hat, wo er wohnte, eine kleine dreiviertel Stunde Fußweg vom Montparnasse entfernt. Sie begleitete ihn gegen halb vier morgens dorthin, und sie lachte, denn sie fand es zu absurd. Im alltagssprachlichen Sinne zu absurd, also widersinnig, dürfte sie gefunden haben, dass ausgerechnet so ein diskreter Ort wie ein Hotel durch den Namen der Nationalheiligen Keuschheit, Nationalgefühl und Frömmigkeit anmahnt. Doch ist das Es, das da zu absurd ist, in seiner inhaltlichen Unbestimmtheit nicht nur das Hotel, es ist die ganze Situation, die Möglichkeit eines erotischen Abenteuers in einem Monument der Bigotterie. Da lachte sie. Kräftner war beeinflusst vom französischen Existentialismus. Der Begriff des Absurden, bei Camus gleichbedeutend mit der Sinnlosigkeit des Daseins und der Verlogenheit jeglicher Sinnstiftung, gegen die der Einzelne dennoch revoltieren muss, dürfte ihr geläufig gewesen sein.

Da zeigt sich eine geradezu idiosynkratische Reaktion auf Wörter, genau wie im vorletzten Vers von Ereignis am frühen Morgen, wo sie aus „in einem Fremdenzimmer“ in einem fremden Zimmer macht. Seltsam und von sprachlichem Feingefühl ist auch dieses Sie. Für ein Tagebuch ungewöhnlich, von sich selbst in der dritten Person zu schreiben. Der Illeismus könnte hier als Variante des lyrischen Ich auf die Inkongruenz von realer und fiktionalisierter Person hinweisen.

Derartige poetische Fiktionalisierungen machen sich im Ereignis am frühen Morgen noch stärker geltend als im Tagebuch, Hertha Kräftner verlagert beispielsweise das August-Erlebnis der Sie in den Februar, wo nicht mehr sie, sondern das Mädchen nicht mehr lachend vor dem Hotel steht, sondern lachend aus ihm herauskommt.

Das Mädchen ist in der Kunst weniger Benennung als Topos. Dessen Bedeutungsspanne reicht von der düstersten Allegorik („der Tod und das Mädchen“) über „La fille, pour son plaisir, / Choisit le matelot“ (Barbara) bis hin zu Queneaus „Zazie dans le métro“, dem lebenslustigen Gör, das sich um nichts schert. Diese drei Ausformungen des Topos spielen eine Rolle in dem Gedicht: das freche Gör, das mit seinem sündhaften Gelächter die braven Mieter aus dem Schlaf reißt (nur wer schläft, sündigt nicht), das Mädchen, das sein Vergnügen sucht und findet, schließlich das Dingsymbol der schwarzen Gitarre, die zudem verstimmt ist. Es ist, als griffe durch durch die Präsenz dieser Gitarre eine finstere und gefährliche Macht (wie der Tod) nach dem Mädchen, als ließe diese Gitarre es die Strümpfe vergessen und lieferte es der Februarkälte aus, dass das Lachen ihm vergeht.

Vor allem aber wird die Absurdität der Jeanne d‘Arc, im Tagebuch eher eine anekdotische Beiläufigkeit, im Gedicht zum zentralen Motiv: Hier ist die junge Frau offenbar mit jemandem aufs Zimmer gegangen. Dies ist eher suggeriert als ausgesprochen: ein Zimmer mit zwei Betten / und einer Waschschüssel aus Porzellan, das sie unvollständig bekleidet verlässt, denn sie hatte beim Weggehn / die Strümpfe auf Nummer sieben vergessen. Sie begegnet dem Pförtner, durch den der Name Jeanne d‘Arc vollends lächerlich wird: Der Dienstbote wird in der marmornen Halle durch seine Kappe zum Namensträger, zum Darsteller der keuschen Soldatin, und bei diesem grotesken Anblick muss das Mädchen ausgerechnet an Nummer sieben denken, das Zimmer mit zwei Betten / und einer Waschschüssel aus Porzellan. Das Absurde hat hier eine komische, fast heitere Anmutung, doch dann tritt das Mädchen immer noch lachend nach draußen, im Februar. Man könnte ab hier an das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern denken.

Das alles wirkt wie leicht dahin gesprochen, improvisiert fast. Es scheint, Kräftner unterläuft es einfach, dass sie Dinge zweimal sagt. Erst auf den zweiten Blick fällt der strenge Aufbau des Gedichts auf:

Der Name Jeanne d‘Arc strukturiert einen zweiteiligen Aufbau: Anfang, Ende und eine Zäsur nicht ganz in der Mitte. In beiden Teilen kommen in variierter fast alle Motive des Gedichts vor:

Die erschreckenden / erwachenden Mieter, das Lachen im Treppenhaus / unterm Tor, die vergessenen Strümpfe, das Zimmer Nummer sieben, die schwarze / verstimmte Gitarre mit ihren Bändern. Lediglich der Pförtner kommt nur im ersten Teil vor und der Februar nur im zweiten. Das Hotel Jeanne d‘Arc gibt sich als Ort bigotter Rechtschaffenheit, das Mädchen gehört hier nicht hin. Es hat eine Nacht in dem Zimmer mit zwei Betten / und einer Waschschüssel aus Porzellan verbracht und verlässt es am frühen Morgen ohne Strümpfe und geht hinaus in die Februarkälte. Auch dort gehört es nicht hin. Seine Situation kann im Geiste des Existenzialismus, dem Hertha Kräftner zugeneigt war, als existenzielle Unbehaustheit verstanden werden, ähnlich der Situation von Wladimir und Estragon in Becketts Warten auf Godot: Die Vergangenheit ist vorbei, eine Zukunft nicht in Sicht. Becketts Stück wurde ein Jahr nach Kräftner Tod veröffentlicht.

Die Bildsprache des Gedichts ist einfach, die Bilder verstehen sich von selbst, auch wenn sie schon nicht mehr die Realität abbilden, sondern fiktionalisieren: Das Hotel wird über die Seine gerückt, die Sommernacht wird zum Wintermorgen. Gerade diese Fiktionalisierung öffnet das Gedicht für Chiffren, Bilder die sich nicht mehr von selbst erschließen, weil sie sehr persönliche Verschlüsselungen sind. Man kann sie auf sich beruhen lassen, ohne der Wirkung des Gedichts Abbruch zu tun: die vergessenen Strümpfe und die Gitarre bilden die beklemmenden, letztlich siegreichen Gegenkräfte zum befreiten Lachen. Die Bedeutung, die diese Bilder jenseits ihrer Funktion haben, könnte geheim bleiben. Muss aber nicht. Denn auch hier gibt es eine korrespondierende Stelle im Pariser Tagebuch:

Zu St. Germain-des-Prés gehört, wer keine Strümpfe trägt in seinen Strohsandalen; wer seine langen Haare kräuselt, wo sie den offenen Kragen des schwarzen Hemdes erreichen; wer niemals seinen Samtrock bürstet; wer lange Hosen unter Kleidern trägt und seine Haare schneidet, kurz und wild, falls er ein Mädchen ist. Im Café des deux Magots gingen zwei herum, singend ohne Melodie und Gitarre spielend, wie wenn ein Fleischer Kühe tötet. Und die Fremden zahlten, dankbar und entzückt. Im Cafe de Flore daneben sitzt Sartre manchesmal, und sie verehren ihn wie einen Gott aus fremden Ländern. Sie leben seine Bücher, die sie nicht verstehen. Sie tanzen und trinken sich zu Tod. Sie hungern, aber sie sind frei. Sie ekeln sich vor etwas, das sie nie begreifen. Am „Boul-Mich“ treiben sie auf und ab, Nachmittage lang; sie haben nichts zu tun. Sie fürchten sich vor einem Ende und ersticken sich.2

Das Mädchen – wir wissen, dass es nicht nach Paris gehört – gehört durch die vergessenen Strümpfe eben doch zu St. Germain-des-Prés. Gerade wegen dieser paradoxen Zugehörigkeit muss es aus einem fremden Zimmer kommen und sich lachend, aber ungeschützt in die Kälte begeben. Es lebt Sartres Bücher, die es nicht versteht. Es tanzt und trinkt sich zu Tod. Es hungert, aber es ist frei. Es ekelt sich vor etwas, das es nie begreift. Es fürchtet sich vor einem Ende und erstickt sich. Und die Gitarre: Sie begleitet den melodielosen Gesang derer, die herumgehen, wie wenn ein Fleischer Kühe tötet. In den Chiffren verschlüsselt und verschlossen die Botschaft, dass das Mädchen, eine Fiktion zwar, aber doch ähnlich der Autorin, zu den poètes maudits gehört. Und es klingt bereits an, was Hertha Kräftner im März 1951 in der Skizze Wenn ich mich getötet haben werde3 formuliert:

Die dritte Kategorie der Beurteilenden aber wird meinen Tod als völlig ursachlos empfinden, denn ihre Argumente heißen: Dieses Mädchen stand am Anfang ihres Lebens, sie war weder gefährlich krank, noch häßlich oder verunstaltet; sie war gescheit und gebildet, ihr Professor nannte sie fähig und namhafte Literaten fanden sie begabt. Sie hatte bereits schriftstellerische Erfolge. Wo immer sie hinkam, war sie den Leuten sympathisch, sie konnte sich ihren Mitmenschen anpassen. Sie hatte einen Freund, der sie liebte, wenn sie aber neben ihm nicht glücklich war, so hatte sie Gelegenheit genug, einen anderen zu wählen. Sie hatte eine sorgende Familie und bekam nicht nur, was sie brauchte, sondern auch was sie sich wünschte. Hatte dieses Mädchen also Grund, sich zu töten? Nein, antworten die Philister.

Im November desselben Jahres setzt sie ihrem Leben ein Ende.

 

 

 

 

 

Antiquarisch erhältlich!

  • 1. Hertha Kräftner, Das Werk, hg. v. Franz Probst, edition roetzer Burgenländische Bibliothek, Eisenstadt 1977S.133
  • 2. ebd. S. 134
  • 3. ebd. S. 158

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