Lesart
Ingeborg Bachmann* 1926† 1973

Böhmen liegt am Meer

Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus.
Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund.
Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gerne.
Bin ich’s nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich.
Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich’s grenzen.
Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder.
Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land.
Bin’s ich, so ist’s ein jeder, der ist soviel wie ich.
Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehen.
Zugrund – das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder.
Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf.
Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.
Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und schiffe
Unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser,
und Venezier alle. Spielt die Komödien, die lachen machen
Und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal,
wie ich mich irrte und Proben nie bestand,
doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.
Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags
Ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.
Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land,
ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr,
ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält,
begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.

Wer geht denn hier zugrund

Die Bachmann schrieb dieses Gedicht im Jahre 1964 anlässlich einer Pragreise. Und sie erblickte damals in Prag merkwürdige Dinge. „Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus. Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund.“ Alles klingt überraschenderweise so positiv, viele Wege scheinen betretbar zu sein. Man könnte im Hinblick auf die kommenden Zeilen kommentieren: Ja, schaff das Unschaffbare, oder wie man es ein paar Jahre nach Bachmanns Pragreise formulieren sollte: Die Phantasie an die Macht; nach der dem Gedicht immanenten Bedeutungsschema müsst es eher heißen: Die Utopie an die Macht. Also mach oder schaff das Unschaffbare, und wenn Du es nicht schaffst, dann ist das Unschaffbare mit seiner verkorksten Existenz selber schuld, und schuldlos sind die verwegenen Wege der mühselig Suchenden.
Als geheimnisvolle Rettung wird laut Gedicht „Böhmen ans Meer begnadigt“, dann liegt es trotzig  „am Wasser“. Und jetzt folgt einer der schönsten und verheißungsvollsten Verse, die ich in der deutschsprachigen Literatur kenne: „Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land “. Achtung, kurze Unterbrechung, eins. Wie allgemein bekannt, schrieb William Shakespeare in seinem Wintermärchen von „Böhmen, eine wüste Gegend am Meer“ (3. Akt, 3. Szene). Anhaltend war der Spott der Deutschnationalen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, die da höhnten: Seht, Böhmen ist so völlig unbedeutend, so völlig unbrauchbar, dass selbst der große Shakespeare mit seiner epochal schillernden Kenntnissen nicht wusste, wo er dieses armselige Böhmen lokalisieren soll. Eine wüste Gegend am Meer, hahaha. Und anhaltend war die Schmach der Tschechen, die zudem ihr Staatsgebilde als unmaritimes ödes Binnenland empfanden, noch dazu eingekesselt von Bergeshöhen, die justament an der Staatsgrenze dicht ihre Rücken schlossen. Kurze Unterbrechung, zwei. Und die Bachmann schrieb: „Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder“. Ein – so denke ich – völlig unbeabsichtigtes Klangspiel, besteht doch „Tschechien“ aus Böhmen und Mähren, und in Ostösterreich intoniert man „den Mährern“ fast gleich wie mit „den Meeren“. Unbeabsichtigt, weil die Bachmann auf nationale Zwistereien und ethnische Deutungen keinen Bedacht nahm.
Und die Bachmann schrieb: „Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land.“ – Nein, nicht die plausible Einsicht des Geographen, dem die Existenz eines Meeres die antipodische Existenz eines Landes, eines Festlandes, bedingt. Vielmehr eine übergroße Überraschung: Schau, da ist dieses Stück Böhmen also hingepurzelt. Gleicht hiemit einer Rettung in auswegloser Situation, einer beinahe schon unverhofften Rettung. „Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser, und Venezianer alle.“
Oder – das ist die pessimistische Deutung – ist das Meer das Land? Das Land ihrer – Bachmanns Wahl, das strittig ist? So ist die Rettung in die Zuversicht nur eine blendende Täuschung, auch eine Täuschung der Sprache - schließlich war die Bachmann mit den Thesen Wittgensteins bestens vertraut - , und es verbleibt als ewige Konstante die Verzweiflung: Wenn am Grund – tatsächlich kein Grund mehr ist?

 

 

 

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