Lesart
Johanna Schwedes* 1979

Verloren

Falterhaus, Nachtfaltergruft
in deiner Nachthaut
                                      verpuppt
mein Ruf
'Land
            unter'

Ein fein gesponnenes Versteck

Ein kurzer Text, den die Autorin nicht in ihren Debütband „Den Mond unterm Arm“ aufgenommen hat. Eingängig durch sein resonantes Vokabular.  Aber halt! Was wird eigentlich gesagt? Schon die erste Zeile ist viel weniger selbstverständlich, als die Eingängigkeit der dichterischen Sprache vermuten lässt. „Falterhaus, Nachtfaltergruft“: Eine Aufzählung? Eine nachgestellte Attribuierung? Zu ähnlich wirken die beiden Bestandteile. Wohl eher eine Correctiofigur. „Falterhaus, nein warte: Nachtfaltergruft“ Nicht nur zitiert der Text einen Ruf, er trägt die Insiginien der Rede auch selbst eingeschrieben, ist selbst ein Zwischenruf.

Oft öffnet die Autorin in anderen Texten mit ihren jeweils ersten Zeilen einen Handlungsort, eine Bühne. Aus dem Zoo kennen wir Falterhäuser, die Nachtfalter im abgedunkelten Bereich. Auch das Gespinnst der Puppe selbst ließe sich füglich „Falterhaus“ nennen. Die Insignien der Rede sind es jedoch, neben dem Personalpronomen, die den Text in die Sphäre des Menschlichen verweisen, auch wenn schreibarchäologisch betrachtet die älteste Schicht des Textes vielleicht auf das Rudiment eines verunglückten Falters Bezug nimmt.

Die nächste Zeile könnte ebenfalls noch zu dieser Ortsangabe gehören, wie sie, davon abgehoben, auch mit dem „verpuppt“ zusammengeschlossen werden kann. Zieht man das im Partizip still gestellte einzige Verb nach unten, ergibt sich eine Situation: „Mein Ruf 'Land unter' ist in deine Nachthaut verpuppt bzw. hineingesponnen.“ (Prinzipell steht das Verb bereit, es mit einer neuen nichtreflexiven Bedeutung zu füllen. Solch ein „hinterhältiger“ Umgang mit Verben ist in anderen Texten der Autorin deutlich zu beobachten). Eine Situation die Fragen offen lässt: Wäre die Puppe (bzw. die Nachthaut) unvollständig ohne diesen Warnruf?

Eine andere Lesart bestünde darin, den Text elliptischer zu lesen: Das „Ich“ wäre in die Nachthaut verpuppt. Die Nachthaut wäre die Textur aus verknäulten (Kommunikations- ?) Fäden, durch die der Ruf erst hindurchdringen müsste. Die Sprecher könnte sie offensichtlich nicht ohne Weiteres hergeben, jedenfalls nicht, bevor eine Wandlung vorgegangen wäre.

Oder hat das „Du“ des Textes beide in seine Nachthaut gesponnen und man kommt nicht voneinander fort, auch wenn offensichtlich eine Katastrophe ihren Lauf nimmt, mindestens Gefahr im Verzuge ist?

Wenn es eine Nachthaut gibt, gibt es offenbar auch eine Taghaut. Bei Celan lese ich „Etwas kleidet uns ein/ In Taghaut in Nachthaut“ (Das Fremde; Zeitgehöft). Haut, die Hülle des Eigensten. Wie zeigen wir uns gegenseitig? Wie werden wir uns greifbar? Offensichtlich bestreitet dieser Neologismus die Kategorie des Authentischen, denn er legt nahe, wir verfügten über verschiedene habituelle Modi. Die Methapher wirft damit die Frage nach der Integrität von Person (Maske) auf. (Es verwundert nicht, dass besonders Frauen sich diese Fügung metaphorisch in der geschilderten Weise anverwandeln - gibt das Wort z.B. bei Heidrun-Auro Brenjo. Cornelia Eichner, Sabine Friedrich, Sonja Lehnert - : „Nightskin“ ist eine eingetragene Kosmetikmarke und in diesem Kontext ist das Wort auch ins Deutsche hineingesickert. Oft ergibt sich ein Schwerpunkt ins Erotische. Unser Text passt besser zum Hinweis der Kosmetikfirma, die Haut wachse nachts mit achtfacher Geschwindigeit nach.)

Eine Schulweisheit, die um das „Tertium Comparationes“ herum ihren Metaphernbegriff aufbaut, sieht nicht recht, dass die Wirkmächtigkeit der Metapher wesentlich dadurch zu Stande kommt, dass sie andere Konzeptualisierungen in einen Text hineinträgt, die das kategoriale Fundament eines Textes verschieben, oder -  wie hier - sogar erst herstellen.

Ich habe mehre Lesmöglichkeiten des Gedichtes angedeutet. Keine rundet den Text endgültig. Irgendetwas scheint jedes Mal zu fehlen, etwas scheint jedes Mal verloren gegangen zu sein.

Ein Text wie eine wolkenbekränzte Bergkuppe: Von ferne sieht man das, kommt man näher, wird der Gipfel unsichtbar und auch die Wolke ist verschwunden, allenfalls ist es etwas diesig: Wie aber, wenn das Du gar nicht eine konkrete Person in der Fiktion des Gedichts wäre? Wenn der Text nicht als eine Allegorie auf die Schwierigkeiten einer Beziehung gelesen würde, sondern als eine auf die des Lesens: „Du denkst, Du kommst mir nahe, aber ich warne Dich: Der Boden wird da unsicher“. Denn Gedichte schreiben ist ja neben Erfahren und Forschen auch Illuminieren, Illusionieren. Und dieser Text ist reich an Illusionsmitteln, nicht nur auf der semantischen Ebene. Metrisch ließe sich der Übergang von weiträumig naturhafter Bildlichkeit zum geradlinigen Warnruf als Stolpern der Daktylen des Anfangs wiederfinden, die sich in ein alternierenden Gang verwandeln. (Wobei der Schlussamphybrachus sich sowohl in diese Reihe einpasste, als auch den Anfang zitierte.) Für kurze, nicht nach Schema geordnete Texte lassen sich sprechend freilich immer auch andere metrische Deutungen herstellen. Handgreiflicher wird die lautliche Organisation des Textes: In der zweiten Zeile werden die beiden Wörter „Falterhaus, Nachtfaltergruft“ der ersten Zeile im Wort „Nachthaut“ teilanagrammatisch verschränkt. „U“s  verdüstern das Geschehen. Unterschwellige Reime und Assonanzen stiften ein enges Netz von Zusammenhängen.

Aber dies ist kein Einsingen, Einlullen. Ihr Text ist auch hier ambivalent. Er sperrt sich und das ist gut so: „Wie die Bilder, die mit Milch- und Mehlbrei gemalt sind, befriedigen uns auch keine Gedichte, die auf pa-pa-pa/ pi-pi-pi/ ti-ti-ti aufbauen.“,  kritisiert der russische Futurist Krutschonych in seiner Schrift „Das Wort als solches“ die allzu stark auf eingängig klangliche Einfachkeit setzende Sprache der symbolistischen Dichter „Ein gesunder Mensch kriegt von solcher Nahrung bloß Bauchschmerzen.“. Krutschonych ruft ihnen zur Hygiene des Halses sein „dyr-bul-schtschil/ ubeschtschur“ entgegen. Auch „Verloren“ erweist sich auf den zweiten Blick als ein erstaunlich sperriges klangliches Objekt. Die mittleren Vokale E,I,O sind statistisch zurückgedrängt, durch extremere A und U ersetzt. Dazu kommen überdurchschnittlich viele der zwielichtigen Diphtonge. Auf der Ebene der Konsonanten setzt sich dieser Befund fort. Der für einen Deutschen aufwendige Ach-Laut regiert das Geschehen der ersten Zeilen, einmal sogar (-achthaut) in Kombination mit dem Hauchlaut.  Auch die Häufigkeit von zwei Konsonanten nach einem Vokal unterstützt diesen Eindruck der Sperrigkeit. (In der Mehrzahl der deutschen Grundformen, folgt auf den Vokalkern der Silbe kein oder lediglich ein Konsonant.) So lässt sich aus dem Lautmaterial dieses kurzen Textes ein kratzbürstiges Lautgedicht extrahieren:

alt rhaus achtfalt rgruft
achthaut v
rpuppt m and unt

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