Sonette an Orpheus XXI
Frühling ist wiedergekommen. Die Erde
ist wie ein Kind, das Gedichte weiß;
viele, o viele …. Für die Beschwerde
langen Lernens bekommt sie den Preis.
Streng war ihr Lehrer. Wir mochten das Weiße
an dem Barte des alten Manns.
Nun, wie das Grüne, das Blaue heiße,
dürfen wir fragen: sie kanns, sie kanns!
Erde, die frei hat, du glückliche, spiele
nun mit den Kindern. Wir wollen dich fangen,
fröhliche Erde. Dem Frohsten gelingts.
O, was der Lehrer sie lehrte, das Viele,
und was gedruckt steht in Wurzeln und langen
schwierigen Stämmen: sie singts, sie singts!
Es im Laufen zu tragen
Am 7. Februar 1922 schreibt Rilke aus Muzot an Gertrud Ouckama Knoop: „Sollte man die >Sonette an Orpheus< an die Öffentlichkeit gelangen lassen, so würden wahrscheinlich zwei oder drei, die, wie ich jetzt schon merke, vermutlich nur dem Strom als Leitung gedient haben (wie z.B. das XXIe) und nach seinem Durchgang leer geblieben sind, durch andere zu ersetzen sein.“ Zwei Tage später: „bitte, überkleben Sie´s gleich ((das alte Sonett I, 21)) mit diesem, heut geschriebenen Frühlings-Kinder-Lied, das eher den Gesamtklang bereichert und, als pendant, nicht schlecht steht, dem Schimmel-Weihgeschenk ((Sonett XX)) gegenüber … Dieses Liedchen hier, wie es mir heut, im Erwachen, aufkam, ganz fertig bis zur achten Zeile, und gleich darauf der Rest, erscheint mir als eine Auslegung einer >Messe< - ja einer, wie mit aufgehängten Girlanden von Klang heiter begleiteten, wirklichen Messe: die Klosterkinder sangen sie, ich weiß nicht, mit welchem Text, aber so in diesem Tanzschritt, in der kleinen Nonnenkirche zu Ronda (in Südspanien -), sangen sie, man hörts, zu Tamburin und Triangel! – Nicht wahr, es passt, wenn man so will, in jene Zusammenhänge der Sonette an Orpheus: als der lichteste Frühlings-Ton darin? (Ich glaube.)“
In diesen Sätzen steht der von der „wirklichen Messe“, dem Gesang der Klosterkinder, den begleitenden Tamburins und Triangeln, dem eigenen „Liedchen“ ergriffene Rilke lebendig vor uns. Ebenso ergriffen und zugleich leichthin, im Kinderton, spielend, singend, tanzend, jubelnd, mithin mit großer Kunst, entfaltet, gestaltet dieses ´Frühlings-Kinder-Lied´, was Rilke vom Dichter verlangt: Dasein bejahen und ´rühmen´. „Rühmen, das ists!“, beginnt das siebente Sonett der „Sonette an Orpheus“. Ohne dass das Gegengewicht, die Schwere, „Beschwerde langen Lernens“, „Streng war ihr Lehrer“, verschwiegen wird - und eben deshalb - , ist dieses Gedicht unmittelbar die fröhliche, unbeschwerte Leichtigkeit der spielenden Erde, der spielenden Kinder, mit ihren Jubelrufen, ihrem Spiel mit der (so strengen) grammatikalischen Begrifflichkeit: ´Wurzel´ und ´Stämme´. Auch die strenge Form des Sonetts kommt mit den Enjambements und im Daktylus, dem Tanztakt, ins Tanzen, ins „Laufen“, ´hebt´ ab. Am 23. Februar schreibt Rilke an Katharina Kippenberg: „Ich sage immerzu Sonette. Ob es gleich das Freieste, sozusagen Abgewandelteste wäre, was sich unter dieser, sonst so stillen und stabilen Form begreifen ließe. Aber gerade dies: das Sonett abzuwandeln, es zu heben, ja gewissermaßen es im Laufen zu tragen, ohne es zu zerstören, war mir, in diesem Fall, eine eigentümliche Probe und Aufgabe“.
Am selben Tag, an dem dieses Gedicht „im Erwachen, aufkam“, schreibt Rilke auch große Teile der neunten Elegie der „Duineser Elegien“, darin die Verse:
„Erde, du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte
nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen - , einer,
ach, ein einziger ist schon dem Blute zu viel.
Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.“
Ich lade ein zum Auswendiglernen, damit das ´Kind´ (von den ´vielen, o vielen´ zumindest) dieses ´Gedicht weiß´.
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