So die Türen
Geschlossen sind
Kann es ins
Offene gehn.
Stielabwärts
Kreiseln die
Lindenblätter.
Eine Krähe gleitet
Vorüber schon blüht
Zuversicht.
Dem Vergänglichen offen
Oft sind es Pflanzen oder Tiere, auf die Sarah Kirsch ihre Aufmerksamkeit richtet, und die Dichterin findet in einem unerschöpflichen Meer von Worten die poetischsten, um sie mit ihrer kraftvollen Bildsprache zu umschreiben. Sarah Kirschs Gedichte strotzen vor Übermut und Elan, mit scharfer Beobachtungsgabe spürt sie das Geschehen auf, ihr poetischer Blick durchdringt die Erscheinungen der Außenwelt bis zum innersten Kern. Schauplatz ist vor allem die Natur, und darin findet sie unzählige Beispiele für „vollendet Schönes“. Wunder, so ist es doch, sind diese dann, wenn es im Gegenzug dazu auch ein Ich gibt, das entsprechend empfindet. Das unermüdliche Erstaunen wird bei Sarah Kirsch hervorgerufen durch Nah- und Fernliegendes, durch Fauna und weite Flur. Ihre Fähigkeit zur Intensität wurzelt in der ehrfürchtigen, geradezu demutsvollen Haltung, mit der sie dem Pflanzen- und Tierreich begegnet. Der Themenschwerpunkt von Kirschs Gedichten ist das unablässige Wechselspiel zwischen Umwelt und Mensch und den daraus erwachsenden Beziehungsfäden; der alltägliche Natur-Raum, in dem sich sogar scheinbar Trostloses in ein aussichtsreiches Panorama verwandelt. Sinnlichkeit und Selbstironie fehlen nie in diesen Gedichten, und mit Leichtigkeit werden Gesellschaftskritik und die Lust am Sehen im Textgewebe miteinander verknüpft. Mitreißend gelingt es der lebensverbundenen Dichterin, poetische Landschaftsskizzen zu entwerfen, die sowohl in kunstvoll prägnanter Form, als auch mit langem Atem schwärmerisch ins Sprachwerk gesetzt werden.
Das Gedicht trägt keinen Titel. Beim ersten Lesen kann das Paradoxon zu Beginn als bloße Widersprüchlichkeit aufgefaßt werden, obgleich die knappen Worte doch recht genau auf Wesentliches abzielen, auf das Innenleben, das erst durch die Abgrenzung von Außen an Beachtung gewinnt. Das, was sich hinter den „Türen“ verbirgt und sich ohne Fluchtmöglichkeit auf die Innenwelt konzentriert, ist zunächst unumgänglich, erschließt dann aber – trotz gebündelter Konzentration auf das Verschlossene – eine Perspektive der Weite: „ins / Offene gehn“. Dies wirkt wie die Öffnung eines zu entfesselnden Knotens. Zwar ist der Lauf der Zeit nicht aufzuhalten, aber man ist der Ohnmacht nicht so schnell ausgeliefert, wenn die kreiselnden „Lindenblätter“ bewußt wahrgenommen werden. Entsprechend verfestigen sich im Innern die Augenblicke der Vergänglichkeit.
Vorgänge werden sachlich und ohne moralischen Ballast geschildert, oftmals nur durch schlichte Metaphern. In der dritten Strophe ist es das Symbol einer gleitenden „Krähe“. Kein Schmerz, keine Trauer wird definiert; nur zwischen den Zeilen und beim Nachvollziehen des Bildes scheint Melancholie durch. Aber während des Ausharrens ist bald Freiheit spürbar: es „blüht“. Die Linde? – nein, ein neues Gefühl.
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