Durch die Wüste
Else Lasker-Schüler, wie sie auf vielen Fotographien erscheint, wirkt auf uns heutige Betrachter wie eine „normale“ Dame der Gesellschaft. Meist blickt eine ernste Frau direkt in die Kamera, das Haar geordnet; sie trägt dunkle Kostümjacken, dazu ordentlich um den Hals gelegte weiße Kragen, und von Schmuck ist kaum etwas zu sehen, eine Kette, eine Brosche, Ohrringe. Selbst die Kopfbedeckungen wirken seriös. Das berühmte Fellkäppchen, das sie sommers und winters in Jerusalem trug, taucht erst spät auf den Fotos auf. In Venedig 1924 füttert eine Touristin die Tauben auf dem Marcusplatz, eine Dame mit schlichter Mütze, in einem zweireihigen Mantel und mit Hackenschuhen. Im Berliner Café des Westens, dokumentiert in einer Zeitschrift 1905, sitzt sie in gerader Haltung ihrem zweiten Mann Herwarth Walden gegenüber am Tischchen, mit hoch getürmtem Hut, aber was ist daran ungewöhnlich? Ausnahmen sind Fotographien, die sie mit gelöstem Haar im Atelier zeigen oder mit der Flöte beim Vortrag, wo sie endlich auch mit den viel beschriebenen Pumphosen zu sehen ist. Im Gegensatz dazu zeigen die gezeichneten Selbstporträts ihr phantastisches Maskenbild, den Prinzen von Theben mit wilden Kopfbedeckungen, kühnem Profil und wallenden Gewändern. Sie lächelt fast nie, weder fotografiert noch gezeichnet.
Die Waffen einer Verletzlichen, Schmuck, Verkleidungen, Ich-Maskeraden, alles das, was von anderen differenziert, waren für Else Lasker-Schüler notwendige Überlebensstrategien. Im Schutz der Fellkappe entging sie der Einsturzgefahr durch die Gleichheit mit dem, was sie ablehnte, was ihr Angst machte: Bürgerlichkeit und Vermassung.
Eine gewisse Verachtung liegt auf dem hochmütigen Gesicht Gottfried Benns, auf fast allen Fotos von ihm. Klein, rund, dicklich lässt sich nicht ahnen, welche Faszination er zeit seines Lebens auf geistvolle, hochintelligente Frauen ausübte.
Die Regisseurin Helma Sanders-Brahms drehte einen Film und betitelte ihn nach einem Lasker-Schüler-Buch „Mein Herz - niemandem“. In diesem Film geht es um die geschichtenumwobene Beziehung der Dichterin zu ihrem jüngeren Kollegen Gottfried Benn, dem wir einige der wichtigsten Aussagen über sie verdanken, auch wenn er die Liebesbeziehung zu ihr brüsk beendete, indem er eine andere Frau heiratete. Benn, Pastorensohn und Arzt, dessen dichterische Karriere mit dem Expressionismus begann, führte einen leidenschaftlichen Dialog in Gedichten mit der Frau, die er aus der Erinnerung während einer Gedenkrede 1952 folgendermaßen beschrieb: „Sie war klein, damals knabenhaft schlank, hatte pechschwarze Haare, kurz geschnitten, was zu der Zeit noch selten war, große rabenschwarze bewegliche Augen mit einem ausweichenden unerklärlichen Blick. Man konnte weder damals noch später mit ihr über die Straße gehen, ohne dass alle Welt stillstand und ihr nachsah: extravagante weite Röcke oder Hosen, unmögliche Obergewänder, Hals und Arme behängt mit auffallendem, unechten Schmuck...Dienstmädchenschmuck...“ Wenn Gottfried Benn sie unvermutet auf der Straße traf, hat er sich versteckt, so unerträglich war es ihm, neben ihr zu gehen und mit ihr gesehen zu werden.
An diesem Widerspruch zwischen Faszination, heißem Begehren und gleichzeitiger Distanz und Kälte der Frau gegenüber wird die Kluft deutlich zwischen den jüdischen und deutschen Kreisen, zwischen Mann und Frau, zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Die leidenschaftliche Beziehung, die vermutlich nur wenige Monate im Jahre 1912 dauerte, hat beide für ihr Leben geprägt. Obwohl er sich von Lasker-Schüler und ihren Umklammerungen befreit hatte, blieb Benn einer derjenigen, der sie am besten verstanden hat. Und als Dichterin immer hoch schätzte. Auch als die Liebe längst vorbei war, blieb die Verbindung bestehen, Benn trauerte mit ihr am Grabe ihres Sohnes, er sorgte unter anderem dafür, dass sie – zu spät – den Kleistpreis 1932 erhielt. Die Gedenkrede 1952 kann als spätes Bekenntnis zu der fordernden Liebe, die ihn in die Flucht zwang, gedeutet werden. Eine Anerkennung der politisch feinfühlig empfindenden Frau, die ihm durch ihre klare Erkenntnis und Einschätzung der kommenden Katastrophen überlegen war.
Auch wenn Benns anfängliche Neigung zum Nationalsozialismus seiner literarischen Reputation Abbruch tat, muss man doch den persönlichen Mut anerkennen, der ihn zum Anwalt Lasker-Schülers in der westdeutschen Nachkriegszeit machte, als sie und andere Emigranten noch totgeschwiegen oder abgelehnt wurden.
1958, sechs Jahre nach Benns Rede, verlässt ein Teil des Wirtschaftswunderpublikums empört die neuerliche Aufführung des Theaterstücks „Die Wupper“ von Lasker-Schüler. Politisch jedenfalls war Lasker-Schüler, instinktiv und der eigenen Erfahrung trauend, weitsichtiger als andere, auch als Benn.
“Ich treibe Tierliebe“ schreibt Gottfried Benn in einem der zur Zeit ihrer Liebe entstandenen Gedicht, und das mit einer Frau, die als Prinzessin Tino von Bagdad, als Prinz Jussuf von Theben, mit Engeln und dem König David verkehrte, einer Prophetin, die Visionen hatte und visionär schrieb. Für sie war „Tierliebe“ kreatürlich und nicht mit Schuld besetzt wie für den Pastorensohn Benn. Diese Art Liebe gab ihr wunderbare Bilder für Gedichte, die in die Seele der Leser treffen.
Bin immer auf See
Und lande nicht mehr.
„Man empfand dieses Wesen mit dem knabenhaften Körper, der in, also sagen wir „eigenartige“ Kostüme persönlichster Erfindung salopp gehüllt war, als geschlechtslos“, erinnert sich der Kunsthistoriker Eduard Plietzsch, der vor dem ersten Weltkrieg als Student mit dem „Sturm“-Kreis in Kontakt kommt.
Die große Liebende als Kumpel - das muss die heutigen Leserinnen erstaunen, die in ihr eine Vorkämpferin für das Recht auf freie Liebe sehen, und sie vor allem in ihrer Liebesbeziehung zu Benn definieren.
Über die Motive, ihr wahres Alter zu verschweigen, - sie war 17 Jahre älter als Benn, der davon höchstens 9 bis 10 vermutete - ist viel gerätselt worden. Dass es Eitelkeit sein könnte, wollen die wenigsten eingestehen. Eher wird darin die einer Dichterin gemäße Überhöhung der Wirklichkeit gesehen, in ein Geheimnis hinein, das kein Spiel entschlüsselt. Ob der jüngere zweite Ehemann der Grund ist, oder die Erfahrung, dass schon damals im Berlin der Jahrhundertwende alles auf Neuheit und Jugend fixiert ist, bleibt unerheblich. Jugendlichkeit ist ihr immer wichtig gewesen. Sie wäre weder die erste noch die einzige, die mit einer solchen „Lebenslist“ Jahre ihres Lebens verschweigt.
Vor ihrer Beziehung zu Benn hatte sie viele Juden gekannt, nun ist sie sensibilisiert gegen jeden Ausgrenzungsversuch. Die Schwester Trakls und ihr Mann verbitten sich jeden weiteren Kontakt. Lasker-Schüler fühlt sich, wie immer, wenn sie angegriffen wird, als Jüdin getroffen.
Franz Marc und seine Frau werden wichtige Zeugen ihrer Affäre mit Benn und ihres Leidens danach. Als sie am hilfsbedürftigsten ist, holen sie die Dichterin in ihr Haus nach Sindelsdorf, damit sie sich erholt. Die Einsamkeit und Stille der Natur hält sie jedoch nur kurz aus. Ihr Experimentierfeld, ihr Lebenselixier ist die Stadt.
Zwei Ereignisse sind es, die dem letzten Teil ihres Lebens in Jerusalem Richtung geben. Zum einen wurde sie die emsige Organisatorin von Vortragsabenden, zum anderen verliebte sie sich ein letztes Mal, in einer überschwänglichen, tiefen Gefühlsaufwallung, die Anlass wurde für die wunderbaren Liebesgedichte in ihrem letzten Gedichtband „Mein blaues Klavier“. Der Religionsphilosoph Ernst Simon, Universitätsprofessor in Jerusalem, ein schöner Mann in den besten Jahren, verheiratet und keinesfalls gewillt, Lasker-Schüler zu erhören, wird zum Ziel ihrer Liebessehnsucht. Ob es gerechtfertigt ist, in ihm nichts anderes zu sehen als ein Bild des jugendlichen Gottfried Benn, in dem Sander-Brahms die alles überstrahlende Liebe ihres Lebens sieht, darf man bezweifeln. Warum muss es in einem Leben, in dem es viele Lieben gegeben hat, unbedingt die eine große geben? Sicherlich nimmt Benn eine Sonderstellung ein, da er ebenfalls ein großer Dichter war, außerdem machte die Beziehung prototypisch den Konflikt zwischen ihrer jüdischen und seiner protestantischen Herkunft deutlich, der für Deutschland so schreckliche Konsequenzen hatte. Aber warum nicht der alternden Frau die Kraft einer neuen Liebe gönnen? Auch Goethes Ulrike wurde nicht sofort mit Friederike von Brion gleichgesetzt.
Was bleibt von dieser Liebesbeziehung zweier Lyriker? Gedichte, die zur Weltliteratur zählen.
Fixpoetry 2012
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