Also bin ich
"Also bin ich" ... betitelt sich der im Pop-Verlag Ludwigsburg erschienene 486 Seiten starke Roman, den ich Ihnen heute näher bringen will. Ich denke, das Buch "Also bin ich" ist eine echte Herausforderung an den Leser, denn der innere Schweinehund will schon getreten sein, bis man sich heutzutage aufmacht, ein halbes Tausend Seiten zu lesen. Auch wenn die Autoren ihre schriftstellerische Identitätssuche - im Parallelgang zu den Protagonisten des Buches und von der reinen Masse her - auf die Spitze getrieben haben, die Lektüre zahlt sich aus. Schnell gerät man in den Sog des Buches.
Cogito ergo sum - so verrät uns der Psychologe und Therapeut Anselm Halverstett am Ende des vorletzten Kapitels (auf Seite 481) und am Ende eines polizeilichen Verhörs - seien die einzigen drei lateinischen Worte gewesen, die er gekannt habe. Und setzt uns damit natürlich in Staunen. Doch daran gewöhnt man sich beim Lesen dieses raffiniert konstruierten Romans, der einen immer wieder zum Staunen bringt und dessen Autoren im Finale ihre Rahmenhandlung schließen. Aber zugleich mit der Einführung "unserer Frau Doktor" im vorletzten Kapitel, der blutjungen Psychologin Marlene von Thettlass, die mit braunen, wachen Kinderaugen hübsch in die Welt blickt, aber auch keusch ist wie die Jungfrau Maria, beginnt scheinbar doch auch wieder alles von vorne. Mit gleichem Ausgang oder am Ende offen!? Rollen hier die Autoren den Stein des Sysiphos oder gilt in der angedeuteten Wiederholung des Wahnsinns das Diktum des Griechen Heraklit, der uns lehrte: "Du kannst nicht zwei mal in den selben Fluss steigen!" Mit der Antwort auf solches Nachsinnen bleibt am Schluss jeder für sich alleine. Das Leben tut mit uns und auch mit sich vielleicht doch nur das, was es will. Mehr will ich jedenfalls dazu auch nicht verraten.
Cogito ergo sum- die titelgebende Sentenz hat sich in dieser verknappten Form längst in uns eingeschlichen, lautet aber "Ego cogito, ergo sum", zu deutsch „Ich denke, also bin ich“. Das ist der erste Grundsatz des Philosophen, Mathematikers und Naturwissenschaftlers René Descartes, den er nach radikalen Zweifeln an der eigenen Erkenntnisfähigkeit als „unerschütterliches Fundament“ in seinem Werk "Meditationes de prima philosophia" (1641) formuliert und begründet: „Da es ja immer noch ich bin, der zweifelt, kann ich an diesem Ich, selbst wenn es träumt oder phantasiert, selber nicht mehr zweifeln“, argumentiert der Urheber des frühneuzeitlichen Rationalismus und Vater der analytischen Geometrie, der mit seinem wohl berühmtesten Satz die Grundlage seiner Metaphysik kenntlich macht, aber darüber hinaus im frühen 17. Jahrhundert das Selbstbewusstsein als genuin philosophisches Thema aufruft.
Die wichtigsten Personen des Romans "Also bin ich" befinden sich - jede auf ihre Weise - in einem Hamsterrad, man könnte auch sagen, in einer Identitätsschleife. Das Buch setzt mit einem Paukenschlag ein - Brudermord, ein Thema so alt wie die Bibel, denken wir an Kain und Abel, oder an Romulus, den Gründer der Stadt Rom, der seinen Zwillingsbruder Remus erschlug.
Ignatius Leihandteufl (Teufl - wohlgemerkt ohne "e" geschrieben) kann seinen Bruder nicht mehr ertragen, ihn stört einfach alles an ihm, jeder Gedanke, jedes Wort, jede Geste, jeder Blick - also bleibt nur ein Ausweg, um dem Terror endgültig zu entgehen: Mord! Und so schlitzt er in einer schnellen Sekunde seinen Bruder mit einem Tranchiermesser auf und stellt sich danach geständig der Polizei. Seine Aussage ist von berauschender Sachlichkeit, er schildert den Mord in allen Details, er enttarnt sich - würde ich sagen - als ein Fanatiker des Erinnerns, wie ich das mal in einem Gedicht schrieb. Es wird ein bluttriefendes Bekenntnis. Doch von Reue beim Mörder keine Spur! Sein einziges Bedauern geht daraus hinaus, dass er gerne noch einen Bruder hätte, aber nur, um auch den umbringen zu können. Die Polizei rast zum Tatort. Aber wo ist die Leiche? Lassen Sie mich das etwas spaßig formulieren, denn auch das Buch bedient sich immer wieder des Humors, mal grau, mal schwarz. Mit Blick auf Descartes' Erkenntnis ließe sich folglich das populärphilosophische Axiom aufstellen: Existiert die Leiche, dann ist der Bruder tot. Ohne Leiche bleibt der Mord virtuell und der Bruder am Leben. Dass es diesen Bruder realiter gar nicht gibt und er nur ein Hirnkonstrukt ist, wird für die Handlung des Romans noch von tieferer Bedeutung sein.
Sie ahnen schon, es gibt Verwicklungen mit diesem Ignatius, der dem jungen ambitionierten Therapeuten Halverstett, dem Ich-Erzähler, in der Psychiatrie in die Finger fällt. Doch diesen Befund könnte man genau umgekehrt sehen, und es wäre möglicherweise sogar die bessere Diagnose. Da stapfen also zwei Männer metaphorisch und rhetorisch in die Wüste, doch wer wen in seinem Sinne zwischen Spiegelungen und Luftspiegelungen therapiert oder stimuliert, das liefert den Stoff, aus dem Auseinandersetzungen und Albträume sind.
Der schizophrene Ignatius sitzt am Anfang des Buches jedenfalls als Patient Auge in Auge dem noch unerfahrenen Psychologen Halverstett gegenüber und der ist als enthusiastischer Anfänger sicher, zum inneren Kern des Wahns vordringen zu können. Doch je tiefer er gräbt, umso heftiger wird der Sog, umso dramatischer verstrickt er sich in die Komödie einer aberwitzigen Identitätssuche, die sich zum tödlichen Machtspiel auswächst.
Und so wird ein erstaunlicher Prozess in diesem Roman voller Spannungen aufgerollt - aber auch der Glaube an Gott und Teufel wird in zweiter Ebene gleich mitverhandelt. Die ewige Stadt als Kulisse ist da der richtige Schauplatz, um im Schattenspiel davor, weitläufig und zusammen mit Pater Lorenzo der Frage nachzugehen, wovon wir Menschen - oder sagen wir beruhigenderweise die Protagonisten des Buches - besessen oder geleitet sind auf den Kreuzgängen durch das wahre Leben und wie der Faden der eigenen Biographie sich einem mitunter Schritt für Schritt dabei wie von selbst immer fester um den Hals legt. Und in welche Richtung ist die schiefe Bahn geneigt, die uns - frei nach Brecht - durch die Mühen der Ebenen unserer Existenz führt: "De la stelle a le stalle" - wie es in dem Roman heißt, also "Von den Sternen in die Gosse", oder umgekehrt, aus der Gosse zu den Sternen!?
Der Volksmund, meine Damen und Herren, tut zwar so, als hätte das jeder von uns selbst in der Hand, jedenfalls im richtigen Leben, wenn schon nicht im Roman, wo schließlich doch die Autoren nach eigenem Gutdünken die Fäden ziehen, an denen hilf- und wehrlos ihre Kreaturen hängen. Aber der Volksmund lügt, bewusst oder unbewusst, das ist egal, wenn er sich darauf versteift, dass jeder von uns seines eigenen Glückes Schmied wäre. Ist es nicht vielmehr so, dass wir auf einem Altar des Lebens wie auf einem Amboss liegen und viele Hämmer schwingend mitschmieden an unserem Glück, an unserem Unglück, selbstverständlich auch das eigene, gelegentlich unerbittliche Ich?
Was aber weiß der Volksmund über den Autismus des Bösen, wonach trachtet der Teufel und was ist die Hölle? Um Gott kümmern sich viele, ganze Heerscharen, irdische und - meinetwegen - himmlische. Wer aber fragt schon, wie es dem Teufel geht, wie es in seiner vereinsamten Seele aussieht oder was für ein Film in ihm abläuft, wenn er zwanghaft an irgendeine Haustür klopfen muss? Beim Flanieren mit Pater Lorenzo durch Rom werden wir ganz gut ins Bild gesetzt. Zitat:
"Ich glaube der Teufel ist sehr mit sich allein ...er ist der Fürst der Einsamkeit und der Leere, ein Lügner, der uns Hülle und Fülle vorgaukelt, wo tatsächlich nichts ist. Die Geschichte des Bösen ist ja nichts anderes als ein Panoptikum seiner Verrücktheiten. Das Böse ist immer grotesk. Und warum? Weil der Antichrist selbst unfähig ist selbst etwas zu schaffen. Im eigentlichen Sinne gibt es das Böse also gar nicht, es ist nur das ins Gegenteil umgestülpte Gute". (S. 29)
So weit die heiligen Worte des Pater Lorenzo. Im Rückgriff auf unsere heutigen Erfahrungen wäre als Beispiel einer Verdeutlichung die Analogie zulässig, der Teufel ist eine Art Banker, der mit Leerverkäufen schwungvollen Handel treibt und aus dem Nichts Kapital schlägt. Dieser Prozess schmiedet Alltagselend, Ängste, prägt und vernichtet Existenzen, zerrüttet Seelen oder teert sie mit Gier und Geld und Verdammnis.
Eine Software namens "Fremdbestimmung" ist es, die da viel zu häufig unbemerkt auf unsere Festplatte zugreift und dort nach eigener Windows-Programmierbestimmung Fenster um Fenster öffnet, oder gewaltsam schließt, unseren Blick oder unser Denken infiziert: Cogito ergo... mit Viren, wie das im Fachjargon heißt, oder - ich würde im Zugriff auf die dritte Person Plural sagen, mit WIRen! Sie übernehmen - das muss man sich wie eine Art Staatstrojaner vorstellen - die Steuerung sämtlicher Abläufe, Prozesse und letztlich auch der Handlungen, Verhandlungen und Verurteilungen. Und will man perfide sein, ließe sich durchaus behaupten, diese WIRen produzieren den Straffall selbst, für den sie uns nachher zur Verurteilung dem Richter vorführen. Philosophisch ließe sich hier ein weites Netz auswerfen: Wir sind von Geburt an straffällig. Der Gewaltvorstoß unter Blut ins Leben ist schon das Verbrechen und der Tod die von vornherein unverrückbare und angemessene Strafe dafür. Diesem Urteil entgeht keiner. Das hört sich zwar fatal an, aber der Psychologe Anselm Halverstett bleibt mit beiden Füßen und vor allem mit dem Kopf in solch einem anderen Netz hängen. Und so geschieht auf sanfte Weise das Unvermeidbare: Die Personen gleiten durch die Geschichte dahin und sie verändern sich. Die Messerattacke auf das Gemälde "La Deposizione dalla Croce" von Caravaggio (circa 1602) - der Riss verläuft genau durch die Kehle des von zwei Männern getragenen Leichnams Jesu - ist ein frühes Signal.
Vielleicht ist alles Zufall im Leben, vielleicht, doch auch am Zufall sind höchste Zweifel angebracht, führt der Zufall doch oft - so auch in diesem Roman - ein Eigenleben und plant sich selbst. Ist es also Zufall oder Wunder oder Gottesplan, dass sich nach sieben Jahren Halverstett und Ignatius plötzlich in Rom gegenüberstehen, genau zum Zeitpunkt des Attentats auf das Gemälde des öfters wegen schweren körperlichen Attacken inhaftierten jähzornigen, aber auch genialen Malers Caravaggio, dem sogar Freundesmord zugeschrieben wird?
Die Geschichte einer unglücklichen Verbindung von Wahrheit und Wahnsinn entfaltet sich, nimmt unaufhaltsam ihren Fortgang, getragen von Selbst- und Fremdbestimmung, von Erfahrung und Verfahrung. Gewitzt wird da mit Satz und Gegensatz gearbeitet, geschickt mit der Vatersuche gespielt, steht doch der sensible, wissbegierige Psychologe Halverstett mächtig im Schatten seines übermächtigen Vaters. In solchem Zusammenhang gelingt den Autoren eine satirisch hervorragende Persiflage, wenn in Rom, während des Herumtappens in dieser, wie es im Buche so schön heißt, "restaurierten Geschichtsdeponie ROMA AETERNA" und im kirchlichen Gedränge Pater Lorenzo unerwartet zum vermeintlichen Papst mutiert und verkannt von den Gläubigen bedrängt wird, an ihnen Segen und Wunder zu vollbringen.
Als letzte Bemerkung zu diesem literarischen Pflasterstein aus dem Pop Verlag, den Sie, liebe Anwesende dazu nutzen sollten, Ihre Bibliothek auszubauen, sei noch vermerkt, dass sich die beiden Autoren an manchen Stellen als versierte Beobachter und Beschreiber ausweisen, es gelingen so lebhaft festgehaltene Straßenszenen, wie die nachfolgende Passage gut illustriert:
"Ich durchquerte ein nie gesehenes Gewimmel von Menschen aller Hautfarben und Nationalitäten; wohin ich auch sah:
Gitarristen und Harmonikaspieler, Pantomimen, Porträtzeichner und Karikaturisten, Souvenirverkäufer mit Trauben von Ferrarikappen und Ständen dicht behängt mit roten Fußballtrikots; afrikanische Straßenhändler, die in unfassbarem Tempo ihr Plagiatssortiment an Sonnenbrillen, Gürteln und Handtaschen zusammenrafften und das Weite suchten, als ein Carabiniere aus einer der Seitengassen auftauchte; menschliche Statuen, die zum Entzücken der Kinder abrupt zum Leben erwachten, sowie man ihnen eine Münze spendierte, dann aber sogleich wieder versteinerten - und dann diese Gerüche, die Abgase und der Schweiß, die Aromen und Fette der Restaurants und die Düfte der Blumenstände, schwüle und süßliche Parfüms, lieblich wie Jungfrauenseufzen und schweißig wie Ledersohlen, Geruchsfährten, die in der Luft hingen wie
eine Sinnestäuschung und im nächsten Atemzug erstickt wurden durch die Ausdünstungen der Achselshirts ... Gestank und Musik, Gelächter und Stimmengewirr, all das vermengte sich in meinem überforderten Hirn, in dem allmählich die Migräne pulsierte wie eine laichende Qualle." (S. 45/46)
Mit diesem anschaulichen Satz-Gemälde zur römischen Straßenszenerie will ich Sie, meine Damen und Herren, definitiv diesem Buch und seinen beiden Autoren überlassen, nicht ohne sie vorher zu ermutigen, sich ein Herz zu fassen und sich als Leser ins romanhafte Gedränge unters Volk zu mischen.
Ich danke Ihnen für Ihrer Aufmerksamkeit!
Neuberg, 13. Oktober 2011
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* Anspielung auf den Titel des Buches "Wer bin ich - und wenn ja, wie viele" von Richard David Precht
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