Hinter den Gärten
Lieber Sascha, meine Damen und Herren,
der Grund unseres Zusammentreffens ist ein erhebender, denn es setzt sich damit eine Tradition fort, die jeweils zwei Dichter ehrt – einen, dessen aus dem Expressionismus kommendes und bis in die Neue Sachlichkeit hakendes Werk über Jahrzehnte hinweg die Theaterszene Deutschlands geprägt hat; einen, dessen junges Œuvre mit dem vielbeachteten Gedichtband „Rodung“ einen mehr als erfreulichen Ausdruck gefunden hat und der, auch wenn er sich nun der Dinge und des Studiums wegen nach Leipzig verkrümelt hat, aus diesem unserem seltsamen Bindestrichland stammt.
Ja, die Verleihung des diesjährigen Georg-Kaiser-Förderpreises findet eingedenk der Vergabe des etwas namensamputierten Literaturförderpreises an Daniela Danz 2005 nun zum tatsächlich achten Mal statt. Angesichts dessen, was in der Welt wie im Ländchen momentan los … und der Pessimist in uns versucht ist, das Ende der Aufklärung zu befürchten … ist dies eine gute Gegenbewegung. Es läßt auch die Hoffnung bestehen, daß man von der gegenwärtigen Meinung, Universitäten und Theater seien, als jeweils höchste und wichtigste Bildungseinrichtungen, nach den Maßgaben des Markts zu kontrollierende Kuchenbuden, besser heute als morgen abrückt. Um sich zu verständigen auf diesem schlingernden Schiff, das dieser Planet ist, ist es weder nötig, Köpfe rollen zu lassen im Namen irgendeines Götzen, noch mit dem Mundverbot der Frömmler und Siegersprachler zu kommen. Wir sind damit inmitten dessen, was das Ansehen dieses Preises und unserer Zusammenkunft zu seiner Vergabe signalisieren sollte: Man muß sich nicht einig sein, um an den Grundfesten, die uns von den Tausendfüßlern und Planarien unterscheiden, festzuhalten. Eine dieser Festen ist die Kunst.
Also: Einerseits ehren wir einen Dichter, dessen Arbeiten von den Nazis für alle Zeit in den Orkus gekippt sein sollten, Georg Kaiser, einen dem Anschein, der Mentalität nach echten Magdeburger, dessen reifer Fleiß ein Dreiviertel-Hundert Stücke, daneben Romane und Gedichte zeitigte. Kaisers Vergessenheit ist selbst ein Lehrstück darüber, wie der Bruch in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in die Biografien der das Centennium Erleidenden eingreift, ein wenig an den Yvan-Goll’schen „Hiob“ erinnernd, mit dem es nicht gut ausgeht. Auf der anderen Seite fördert das Land Sachsen-Anhalt mit einem Preis, der den Namen Kaisers trägt, die nachwachsende Avantgarde, deren Stand im entwickelten Neu-Jahrtausend alles andere als ein leichter ist. Es hätte dem alten Kaiser wohl gefallen, dies zu sehn, ist doch darin eine Lösung eines frühen Konflikts des Dichters, in der Welt zu sein, angedeutet. Jeden der bisherigen Preisträger hat diese Ehre bestärkt.
Über Sascha Kokot gibt es einiges zu berichten: Der gebürtige Altmärker, der in Osterburg aufwuchs, in Hamburg lernte, den es nach Australien, schlußendlich nach Leipzig verschlug, wo er am Deutschen Literaturinstitut die Iden und Weihen eines Autors eher vertiefte denn erwarb, mit der nunmehr legendär zu nennenden „Hausdurchsuchung“ eine Lesereihe begründete und sich eine Existenz als Autor und Fotograf aufbaute, ist mit der Nennung seines literarischen Debüts alles andere als rundum erfaßt. Diese „Rodung“, 2013 in der hochambitionierten Edition Azur Helge Pfannenschmidts in Dresden erschienen, bildet aber dennoch einen Fonds dessen, worum es Sascha geht und worum der Kunst, wenn sie sich mit dem Spiegel einer Persönlichkeit mischt, zu tun ist, ab.
Das ist es auch, was den kleinen Furor in der Szene, wenn man sie so nennen will, erzeugte. Stille, partiell nahezu lautlose Texte sind auf diesen 85 Seiten zu finden, zugleich von einer gewaltigen Schwere und schwangeren Füllung, konstatierende, monolithische Gesänge, sich teils wie Anti-Gesänge gebärdend und nicht selten den Gebrauch von Ironie, wenn sie denn vonnöten sein sollte, lange wägend. Sie haben ihrem Verfasser den Ruf eines ernsthaften Mannes eingebracht, eines Arbeiters mehr im Bergwerk denn auf der Pfaueninsel der Dichtung … und sie haben ihm innerhalb des deutschsprachigen Raums wie auch international – seine Texte wurden in fünf Sprachen übersetzt – Respekt und Gehör verschafft.
auch diese Nacht fällt
hinter deinem Haus zu Boden
du hast freie Sicht tief hinein
weißt von den Funkmasten den Rasthöfen
wie Transit sich daran entlang spurt
mit rotem Licht die Sedimente abfährt
das Zurückgelassene nachdunkelt
viel hast du dort geborgen
dir stur in die Zimmer gestellt
Schwemmholz deiner Herkunft
nun bleibt dir der Blick vom Balkon
auf die halbe graue Stadt die demontierten Gleise
der kalten Rodung folgte Stille nach
dein Heim ist ein begehbares Wesen
in dem unser Fehlen haust
Es ist dies das mehr oder minder namensgebende Gedicht in Saschas erster lyrischer Sammlung, unter der Überschrift „Schließer“ ist es als einer der wenigen Texte mit einem Titel versehen. In ihm schießen, glaube ich, alle Aspekte dieses Schreibens in eins: es wird vom Verlassen einer vertrauten Landschaft berichtet, die, gewissermaßen, in den Aggregatzustand der äußeren Weggesunkenheit wechselt, nicht ohne daß man den Ballast seiner Erinnerung daran und letztlich das, was man durch diese Landschaft selbst ist, mitnimmt in die Fremde, das Schwemmholz der Herkunft, und in der man ortlos ist und gefüllt mit dem Alten, gegen das das demontierte Neue brandet und – letztlich fern bleibt wie das, was man verlassen hat: „der kalten Rodung folgte Stille nach“ und „nun bleibt dir der Blick vom Balkon“. Die Dimension ist im Übrigen noch umfänglicher, denn sie greift zurück bis in die Ur-Verluste, die die Prägemarken existentieller Poesie sind.
Dieser gedimmte, sonore, tiefernste Klang der Kokot’schen Sprache ließ früh aufhorchen: Dank eines bis heute hervorragend funktionierenden Förder-, im Sport würde man sagen – „Sichtungs“-Systems ist man in Sachsen-Anhalt nach wie vor auf bestem Wege in der literarischen Nachwuchspflege. Diesem Status indes entwachsen, sehen wir nun einen ausgeformten, seine Obsessionen, wie es scheint, mählich sortierenden Dichter vor uns, dessen Parlando uns trifft und staunen macht. Die Dichterschaft, meine Damen und Herren, ist eine Zumutung und eine Gnade zugleich, nirgendwo kann man in solcher Dringlichkeit von Dingen sprechen, die sonst womöglich unaussprechlich wären. Die Lyriker-Seele ist stets halbseitig bedroht und auf der anderen Seite zum unbestechlichen Hinsehen verpflichtet. Diese Unbestechlichkeit, in den Worten Müllers die „weggeschnittenen Augenlider“ des Dichters, ermöglicht die der lyrischen Gattung unabdingbare Genauigkeit. Sie hat alle dauerhaften Dichterstimmen durch die Zeiten gebracht, ihr Verlust hat auch Hochbegabte nicht selten an ihrer Sinnsuche scheitern lassen.
In den Versen Sascha Kokots aber treffen wir mustergültig auf diesen schwierigen Spagat, er wird durch die besondere Engführung einer unbeschnörkelten Beobachtung des Umliegenden mit dem Agieren des Sprechenden, der ‚Stimme‘ des Gedichts noch aufgeladen. Auffällig, wie gesagt, die große Stille, flußartige Ruhe in diesen Texten, die oft erscheint, als würde darunter ein Brodeln gebändigt, aus dem sich alle existentielle Dichtung speist. Sie tritt mutvoll auf und riskiert zugleich Ratlosigkeit, gegen die dann, in einer weiteren Ableitung quasi, vorzugehen wäre und so fort. Es ist dies eine Art, sich in der Welt zu halten, die eben nichts mit der Ablenkungsmaschinerie der sogenannten Gegenwart, dem schaudererregenden Zeitgeist oder, in die Lyrik gebrochen, dem so vordergründigen, saumseligen Zerkrümeln der Sprache zu tun hat. Hören und vergleichen wir selbst:
hinter den Gärten
enden die Namen unserer Orte
an der unverletzten Gusshaut
wir haben vergessen
dort zu enttrümmern
die ausgelegten Fallen zu kontrollieren
die neuen Gebiete begehbar zu machen
wir kennen den Flusslauf kaum
wo genau die Versinkung liegt
die Trasse ihre Schatten parallel dazu wirft
unsere Karten sind inzwischen überholt
mit ihnen stimmen die Proviantlisten kaum
wir wissen nicht was vonnöten sein wird
fest steht nur die Kälte zieht an
und wir füllen langsam das Schrot
in die Patronen
Wir hören also und: staunen. Was uns hier mit der größtmöglichen Beherrschung mitgeteilt wird, ist zugleich frappierend und ungeheuerlich, es ist, als stünde es auf dem Kipppunkt einer Erkenntnis, der über das Große, Ganze wie auch über die gewaltige Ratlosigkeit einer anstehenden Epoche spricht. Also doch ein Zeitgedicht? Auch das, aber eben ein entlarvendes. Es ist letztlich zugleich die Zeit, in der „unser Fehlen haust“. Die Literatur als Schwester der Geschichtsschreibung wird immer auch aus der Ära berichten, in der sie entsteht, nicht aber, sich ihr anzudienen, eher wohl, um die Analogie zu ziehen zwischen den Herden der Epochen. Leider ist das Bild unserer Epoche grausig, trotz alledem. Wir sind dem Süßholz der leichtherzigen Gesellschaft, wieder einmal und unglücklich, entkommen, wir suchen die Flußläufe, an denen wir zu leben haben, nach den Schwemmhölzern eines Sinns, ja, und unserer eigenen Identität ab. Hinter den Gärten, wo die Wildnis beginnt, lockt die Herausforderung, und sie erschreckt zugleich – es werden die Patronen gefüllt, ihr zu begegnen. Das Anziehen der Kälte ist womöglich … das reziproke Signum unserer Entfremdung.
Ja, existentiell – jenseits der schulemachenden Verschlagwortung aller Dinge zu Pixeln und weitläufigen Unerheblichkeiten ist das der grundlegende Antrieb jeder künstlerischen Ansprache. Zu den Gebresten des Jahrhunderts, aus dem wir stammen und das uns bis heute, auch wenn wir seine Lehren mittlerweile wieder – auch davon redet dieses Gedicht – verspielen, beeinflußt, kommt im Falle des Dichters der Licht- oder oft genug Ablichtbezirk des Persönlichen dazu. Seine Pixelung prägt, beleuchtet oder verdüstert, je nachdem, den seelischen und nicht zuletzt auch leiblichen Verlauf eines Künstlerlebens und formt vor allem sein Werk. In der dichterischen Schmananen-Abteilung fällt das auf wie in keiner Kunstform sonst … der Stempel des Äußeren prägt, durch den ureigenen Solarplexus gefiltert, die Zunge, die Sprache des Vers-Obsessionisten, seine Lyrik, die ihm als die genau ihm entsprechende, folgerichtige Ausdrucksform erscheint.
ein Leben auf Besuch
und in jeder Stadt diese
Zeitungsverteiler Bahnhöfe
wellige Plakate
immer ein Buchstabe weniger
auf dem Straßenschild
der ausgerissene Stadtplan
bald namenlos
die Schlüssel ohne Zähne
Noch etwas ist interessant in unserer Erwägung und treibt mich um: so entstammt Sascha Kokot, meine Damen und Herren, der uns heute als mit diesem Preis auszuzeichnender ‚Einzeltäter‘ entgegentritt, zugleich einer Autorendynastie, die, für sich genommen, ausreichte, die „Osterburger Dichterschule“ zu begründen. Dieser Umstand enthält Aspekte des Glücks und der Tragödie zugleich, er ist in einen Auftakt gesetzt durch die eindringlichen Texte seines Vaters, der nicht mehr unter uns sein kann, in ein zweites Aggregat gebracht durch die tiefen, souverän wie beherrscht geführten Erzählungen und Verse seiner Mutter Diana und findet in der Arbeit seines Bruders Vincenz, Musiker und Autor zugleich, eine weitere dichterische Experimentieranordnung – in ihr wird das Wort ein erneutes Mal auf seine Biegsamkeit untersucht. Wenn man möchte, setzt sich dieses Kaleidoskop aus vier Stimmen ebenfalls zu einer Art Ganzen zusammen. Für den heutigen Tag tritt Sascha schlaglichtartig in das Zentrum dieser Konstellation, wird gleichsam zum Botschafter dieser Ballung an Denk-, Umsetz- und Erfindungskraft. Das schmälert ja das Besondere nicht, im Gegenteil, es gibt dem notwendigen Verständnis dieser Arbeit einen denkbaren Fonds. Möge unser Heim eine Form „begehbares Wesen“ werden, in dem dann aber die Ahnung unseres Daseins haust und in ihm wie uns nachklingt. Heimatlos, mit dem „Schlüssel ohne Zähne“, werden wir noch lange genug sein.
Die Gedimmtheit der Stimme ist zugleich ein Argument ihres Bemühens um Klarheit, eine Anordnung der Dinge. Ein Individuum betritt, zuweilen in einem vagen Verbund mit den Seitenschnitten anderer Individuen, eine abgelegte Landschaft und muß zusehen, in ihr zurechtzukommen. Die Mechanik dieser Bewegung ist es, die beeindruckt. Sascha hat die Meister dieser lyrischen Untergattung – der späte Huchel wäre zu nennen, Andreas Altmann vor allem – gelesen und dabei Nachbarn gefunden. In den bislang etwa vierzig Gedichten der Nach-„Rodung“ setzt sich dieser Weg, wie wir an dem Gedicht „hinter den Gärten“ sehen konnten, mit scharfkantiger Konsequenz fort: wir sind heute auch hier, um uns der nötigen Beharrlichkeit einer solchen Arbeit auf den flegräischen Feldern der Dichtung zu entsinnen. Aus einem abgestorbenen Land bewegt sich die rummelnde Glut nun durch die Hilbig’sche Landschaft des nächsten Sterbegebarens. Man kommt nicht umhin, von dieser Konsequenz Saschas, von diesem postulierten „Du-musst-dahin-wo-es-wehtut“ erschreckt und angetan in einem zu sein.
Denn gleichwohl ist das Kokot’sche Denk- und Mahlwerk auch eine politische Dichtung, das die Dinge durch einen unverspiegelten Filter auslegt und wertet. Es kommt dabei in den hämmernden Werkstätten der Desillusion an, „hinter den Gärten“ beginnt eine unberechenbare Landschaft, sie schwappt bereits in die mühsam gehaltenen „Malevil“-Verschnitte hinein. Dieser Mut und Weitblick in der Entlarvung der Konstellationen, er ist in unseren Generationen nurmehr wenig häufig und oft lediglich vage gebildet: wer legt schon gern den Finger in die aufgekommene Illusions-Verlorenheit unserer Jahre, ihrer nun in Angriff kommenden Ausführung?! Damit ist nun hier zu rechnen – jenseits des ganzen Heidi-Klum-Gedöns’, der allgemeinen Verdämlichungs-Euphorie, hinter dem Feixen der Bohlen’schen Wackeldackel rumort es in dieser Zeit, dass einem Angst und Bange wird und so manche „Susanna Maxima“ vergeblich bimmelt:
ohne Dächer steht ihr da
wie ein Schlag in die alten Erzählungen
als die Mutter noch die Reihenfolge
der Worte abends am Bett kannte
mit dem Geruch der letzten Scheite
steht ihr zerschmissen
auf den rußigen Schwellen
wisst nicht wo die Alten zu begraben
die Inschriften in die Kreuze einzukerben sind
nur die asphaltierten Zubringer
sind euch gut bekannt
vom sonntäglichen Ritus
‚Zerschmissenheit‘ ist vielleicht das Stichwort, das den Anbeginn dieses Schreibens provozierte: ein rasantes Wechseln der Töne und Blicke, eine galoppierende Überformung und Überstülpung, die eben dazu führt, daß man die Worte nicht mehr zusammenbekommt und mit den letzten Scheiten eben auch der Prozeß des Erinnerns außer Gang gesetzt wird, sei es in den „kapitalen Blockstaaten“ oder „westwärts gewildert“: letztlich ist alles bereift vom Atem der kommenden (abziehenden?) Post-Apokalypse. Wir wissen nicht, ob die Reitereien der dritten Garnitur schon durch sind und ob es nicht die Zöglinge dieser sind, die den Landstrich weiter verwüsten. Das Dilemma des Vergangenen – es ist eben auch das Dilemma der Gegenwart. Es sind die Vorzeichen gewechselt, nicht die Protagonisten. Auch das lehrt, glaube ich, uns diese bestechende, mahnende Dichtung.
Wir sind also geehrt, indem wir sie ehren und ihr eine Rückversicherung unserer Wertschätzung für das merkwürdige „Waidwerk am Selbst und den Dingen“, das Sascha, als aus diesem aus divergierenden Stämmen zusammengesetzten Landstrich stammender Dichter, vornimmt, geben. In der Tat, zurückgespiegelt, mag der verhaltene, kühle Ton von Sascha Kokots Gedichten uns eine Ahnung geben für den möglichen kulturellen Reichtum, der dieser nicht immer reibungslosen Liaison so verschiedener Mentalitäten: der mitteldeutschen, der anhaltinischen, der hercynen, ostfälischen, märkischen innewohnt. Wenn man diesen Ton – und die Synästhetiker unter uns vermögen dies – ins Licht hält, möchte man gern von einer norddeutschen Komponente im Stimmenklang sprechen, der im Zusammenklang den Blick auf eine Form der Gesetztheit ermöglicht, die manch anderem Versfüßler so schlecht nicht stünde. Ich denke, sie fällt auch in Leipzig, sei es das alttestamentarische oder das neuhippe, in jedem Fall auf. Und sie wird sich auch künftig nicht auf den „breiten behäbigen Leberfleck mittenmang“, wie Peter Gosse die heimliche mitteldeutsche Hauptstadt umschreibt, beschränken.
Daß es ihr bisher nicht vergönnt war, in Darmstadt die Jury des „Literarischen Märzes“, die für die Vergabe des Leonce-und-Lena-Preises zuständig ist, zu erwecken, erzählt uns wohl mehr über die saumselige Frühjahrsmüdigkeit besagter Jury denn über den dunklen, lakonischen Glanz der Kokot’schen Dichtung. Ich sehe das nicht als Niederlage, sondern eher als ein Symptom. Und vielleicht sitzt ja die fällige Zurechtrückung dieses Umstands auf der nächsten Betriebs-Wolke bereit. Denkbar wäre zugleich, daß dieser Winterschlaf bereits ein Part jener postapokalyptischen Verlebtheit ist, die Kokots Texte motorisieren. Möglicherweise ist es aber auch so, daß sich das Glück bereits auf anderen Wegen tummelt, wie etwa bei seiner Auszeichnung für sein Drehbuch „debris“, 2008 von der Robert-Bosch-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut und Ostpol e. V. prämiert und an einem Kiewer Institut verfilmt. Man nehme wahr, in welche Gefilde unser Delinquent sich mit jedem Recht vorarbeitet! In der Fächerung der Blicke und Möglichkeiten liegt zudem stets eine Chance, für das My eines Grans an der Zeit teilzuhaben, eben ohne ihr aufsitzen, in ihr aufgehen zu müssen. Möge es also Frühling werden in Darmstadt, dem ein gewaltiger Sommer nachfolgt, in dem wir an die geträumten und wahrhaftigen Steinbrüche ziehen und die Porphyr-, Basalt- oder Granit-Inschriften überprüfen:
ein weißer Strich bist du
dicht unter der Oberfläche
in diesem schwarzen Medium
noch nicht lange zurück
gekippt ins Schwimmbare
ducken wir uns unter
Mücken und Federn weg
zählen die Züge zur anderen Seite
im selben Takt fallen Steine in den Bruch
schneiden eine Form für den nächsten Sommer
ganz ohne Kleider und jeglichen Grund
in die Stadt zurückzukehren den Kessel
fehlt uns die Dunkelheit
bis dahin zähle ich die letzten Spuren
auf dem Tuch eine feuchte Fährte
die dein Rücken in die Sonne legte
Das ist bei weitem nicht alles, worüber zu berichten wäre, aber es ist bereits viel und es rechtfertigt vor allem die heutige Vergabe des Preises, und wir können ein wenig in der Spätsonne dieser Erfreulichkeit einhergehn. Unsere Begegnung, die Begegnung zwischen Sascha und mir, ist mittlerweile schon historisch zu nennen, sie liegt nunmehr sechzehn Jahre zurück. Sascha war damals Gymnasiast im Schatten Albrechts des Bären in Osterburg; ich hielt, als so tollpatschiger wie euphorisierter Junglyriker auf den Literaturtagen herumtorkelnd und grade mit jener Auszeichnung beflittert, über die wir heute reden, eine Lesung an diesem Gymnasium. Es berührt mich deshalb jetzt auch, weil Sie nun studieren und besehen können, was aus diesem Gymnasiasten von damals geworden ist, den ich bei einer Literaturwerkstatt in Sonneck wiedertraf, wo er im Kreis um Wilhelm Bartsch saß und mit einer schmalen, äußerst reduzierten Frühlyrik, über die ich heute leider nicht sprechen darf, seine erste Trittspur hinterließ. Es erzählt uns diese Geschichte eben auch etwas über die Möglichkeit der Entdeckung und gezielten Förderung von Gaben, die heute eine würdige Krone erhält. Wir sind hingegen angehalten, diese sehr geradlinige Sicht und Seherschaft Sascha Kokots zu ergründen und für gegeben hinzunehmen, berichtet sie uns doch von unserer Getriebenheit in wiederum getriebener Zeit.
auf weiter Flur bleiben mir nur die Häute
der Wind schlägt sie hohl aus
wirft sie in Form als würden sie
noch ein Tier in mir bergen
in den Nächten seh ich es
die feinen Glieder kreuzen
die Rücken mir zukehren
kräftig gegen mich anschlagen
bevor es aus meinen Händen bricht
Wir sind eben auch zugleich die Tiere des eigenen Glücks oder Nicht-so-sehr-Glücks. – Lieber Sascha, sei damit in die Geschwisterschaft der Kaiserpreisträger aufgenommen, das ist von dieser Sekunde an in den Aggregatzustand einer Tatsache überführt und wird eine Reihe Leute im Land nicht nur freuen, sondern auch ermutigen, bei sich und den eigenen Dingen zu bleiben und darin unbeirrbar zu sein. Ich wünsche Dir Kraft und Mut, danke Dir für Deine Geduld mit mir altem Desillusionisten – es ist gut, zu sehen, daß noch nicht alles, obwohl verloren, verloren ist.
Jena · Halle · Magdeburg, im September 2014.
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