Kummersdorf

Erzählungen

Autor:
Peter Kapp
Besprechung:
Arno Dahmer
 

Erzählungen

"Sex" wird zu "Kloschüssel" - Peter Kapp übt sich in Vielfalt

„Vielfalt“ ist das Wort, das diesen Erzählband von Peter Kapp am besten charakterisiert. Geht es in den „Stories“ Clemens Meyers, vereinfacht ausgedrückt, um Underdogs und in den Erzählbänden Judith Hermanns vorwiegend um Mann-Frau-Beziehungen – wobei in beiden Fällen auch die Form der Texte relativ einheitlich ist –, stehen in „Kummersdorf“ klassische Short-Storys („Das gefrorene Meer in uns“) neben Grotesken („Madagaskar“), ziselierte Prosastücke („Herz. Finsternis“) neben Kolumnenhaftem („Behauptungen“). Die Sammlung enthält darüber hinaus Prosa, die sich einer derartigen Zuordnung weitgehend entzieht. So etwa der titelgebende Text, dessen Held, ein im Dienst als „fester Freier“ ergrauter Journalist, sich für  Recherchen nach „Kummersdorf“ begibt  – kein Dorf, sondern ein (übrigens real existierendes) Territorium südlich von Berlin, das Ende des 19. Jahrhunderts zum militärischen Übungsgelände ausgebaut wurde. Die Schilderung seiner letztlich fruchtlosen Bemühungen am „Sehnsuchtsort wehrseliger Obernazis“ ließe sich als Mischung aus Milieustudie, Schauer- und Detektivgeschichte beschreiben. Noch weniger kategorisierbar ist der dreiteilige Zyklus „Herz. Bewegungen“: Ein zwar menschlicher, aber wie vom Mars gefallen wirkender Protagonist bewegt sich durch Szenerien, die zu einem Teil realistisch anmuten, zum anderen Teil an Fantasyliteratur erinnern.

Schmuckstück des Bandes ist eine köstliche Satire mit dem Titel „Das große O“. Eine vierköpfige Wohngemeinschaft, die den Eindruck einer von Ludwig Wittgenstein gegründeten Sekte erweckt, hat sich dem ehrgeizigen Projekt verschrieben, das Zusammenleben der Menschen durch eine Sprachreform zu revolutionieren. „Sex“ wird zu „Kloschüssel“, „Sprache“ zu das „Das große O“ und für „Schrank“ gibt es den Vorschlag „Eckbecher“. Neben dem Wortschatz wird auch die Grammatik ins Visier genommen. Der Satz „Ich sitze im Sessel“ lautet im neuen „großen O“: „Schluck faulschnitzt in der Fessel“. Raff, einer der Kommunarden, hat indes bald genug von den „kindischen Spielchen“. Er zieht in die Wohnung einen Stock höher und geht hier quasi den umgekehrten Weg. Statt mit Hilfe einer neuen Sprache die Welt zu verändern, setzt er sich zum Ziel, eine Kunstwelt zu schaffen, in der Sprache keine Rolle spielt und somit auch ihre manipulative Kraft nicht entfalten kann. Zu diesem Zweck gestaltet er das Apartment zu einer originalgetreuen Nachbildung der Mondoberfläche um. Sogar die Überreste der ersten Mondlandung sind berücksichtigt: „Die amerikanische Flagge steht übrigens symbolisch für die lächerlichen Versuche des Menschen, seine Sprache zum Mond zu bringen. Gewissermaßen ein Mahnmal für all diejenigen, die ihr Maul nicht halten können.“ – Beide Vorhaben – die Kreation einer neuen Sprache ebenso wie die einer neuen Welt – finden allerdings ihr vorläufiges Ende als Raff, der im Rahmen seines Projekts auch schwere Felsbrocken in die Wohnung geschafft hat, durch die Decke bricht und in der Glasplatte des Wohnzimmertischs einschlägt, auf dem die Kommune mit Fettstift ihre bisherigen Wortneuschöpfungen notiert hat.

Auch auf der sprachlichen Ebene ist „Vielfalt“ das treffende Wort. Während es in der Mehrzahl der „Kummersdorf“-Texte ein Anliegen des Autors gewesen zu sein scheint, seine Inhalte in ein möglichst unprätentiöses Sprachgewand zu kleiden, offenbaren Passagen wie die folgende einen Enthusiasmus für Rhythmus und Klang: „In der Finsternis ruhen Hände und Herzen. Stummes Pochen hinter zitternden Schläfen. Flatternde Lider, die Augen blind in dieser Nacht.“

Originalbeitrag

Peter Kapp: Kummersdorf. Erzählungen. Edition Thaleia, St. Ingbert 2011.