Der Schlaf und das Flüstern

Roman

Autor:
Stefan Petermann
Besprechung:
André Schinkel
 

Roman

Blinde Flecken, oder: Die Summe der Wirklichkeit - Einflüsterung, Stefan Petermann zu lesen

Ein Buch ist zu feiern, auch wenn es nach literaturbetrieblichen Maßstäben mit knapp zwei Sommern nicht mehr ganz neu ist; ein Sommerbuch, eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, vielmehr die Geschichte einer nicht zustande kommenden Liebe zweier (eigentlich dreier) verlorener Seelen. Es geht den blinden Flecken, dem Abyss einer Tragödie nach, schwingt sich zu einem narrativen Sog auf, der kapitelweise atemberaubend ist und, das vor allem: in der jüngeren deutschsprachigen Erzähllandschaft eine Rarität. „Stefan Petermann hat einen präzisen Blick für schräge Geschichten. Sein fantastischer Realismus hat viel Luft bis zum Boden“, urteilt Michael Hametner, Figaro-Literaturchef, über die Kunst Petermanns. Mit einer seiner Kurzgeschichten, die die Begegnung eines Außenseiterkinds mit einem Toten durch die Augen des Toten beschreibt, wurde der Weimaraner beim Literaturwettbewerb des MDR 2009 gleich zweimal ausgezeichnet.

„Der Schlaf und das Flüstern“, Petermanns Debüt, bietet vieles von dem, was Eco als Ideal für den Roman unserer Tage fordert: eine packende, sich unaufhaltsam aufblätternde Story, ein in quirliger Stagnation festhängendes Personal, das sich der Zumutungen der Handlung vergeblich erwehrt, Unterhaltung, Anspruch zugleich. In der Zeit liegt indes die rätselhafte Hauptkraft des Buchs, indem man Stück für Stück erfährt, dass die weibliche Hauptfigur sie anhalten kann. Diese Fähigkeit, früh und per Zufall entdeckt, ist auf der Welt äußerst rar und weitläufig verteilt und scheint zunächst das Geheimnis von Pola, der einen Heldin, zu sein. Innerhalb der Zeitsperre kann sie sich frei bewegen, muss sich allerdings nach den Strapazen zunehmend erholen, was mehr und mehr als der wunde Punkt von Polas Gabe und als der Ort äußerer Einflüsterungen sichtbar wird.

Bald geschehen absonderliche, schreckliche Dinge – sie bringen den Ort, an den es Pola und Janek, die andere Hauptfigur, verschlagen hat, um seine Beschaulichkeit … einen Teil seiner Bewohner an den Rand ihrer oder um ihre Existenz. Die partiell Haushofersche Provinz wird erschüttert, das Leben in ihr für die Protagonisten zunehmend unerträglich. Und: mit dem Auftauchen einer dritten Person, die weniger auf der Suche nach Pola als vielmehr nach ihrer Gabe ist, tritt eine handfeste Konkurrentin von Janek auf den Plan. Alles findet sich plötzlich, der ganze Roman, auf sein ungeheures Finale hin konstruiert und erklärt sich unversehens: die Befremdlichkeiten in der Eröffnung, die scheinbare Diskrepanz zwischen den Blenden, der zeitliche Bruch zwischen den wechselnden Perspektiven. Selten hatte der Blicktausch in jedem Kapitel so schlagende Argumente. Dass sich die Fähigkeiten Polas nicht erst jetzt als brüchig erweisen, wird mustergültig gezeigt.

In diesem Buch geschehen Ungeheuerlichkeiten, denen man bis zum Schluss fasziniert folgt. Mit einer großen Liebe für Figuren und Situationen schildert Petermann Unglaubliches mit der Unschuldsmiene desjenigen, der glauben macht, alles sei so tatsächlich und nicht anders gewesen. So wie die Zeit in der Handlung steht oder rast, vermag es der Autor, die gefühlte Zeit des Erzählens zu dehnen und straffen, bleibt mit kriminalistischer Akribie seinen Helden beherzt auf der Spur. Der Showdown in den letzten beiden Kapiteln lebt vom stillen Furor, der furiosen Stille der Vergeblichkeit, stellenweise mit geradezu Marquézscher Kraft und Magie. Petermanns Prosa wurzelt tief im magischen Realismus, das wird in „Der Schlaf und das Flüstern“ deutlicher als in den kurzen Formen, die von kühler Skurrilität, unterdrücktem Zorn, einem seltsamem Laisser-faire leben.
Die ganze Zeit hält der Autor die Fäden fest in der Hand – das erstaunt und beruhigt im Angesicht des immer wieder ausgerufenen Endes der Erzählkunst. Mit seinem Romandebüt ist Stefan Petermann ein aufregendes, in Teilen grandioses Buch gelungen, das für manchen Leser einen heftigen Suchtfaktor bereithält. Vor wenigen Tagen wurde mit „Ausschau halten nach Tigern“ ein Band Erzählungen des Thüringers ausgeliefert, und man darf … nein, man muss, man hat gefälligst gespannt zu sein.

Originalbeitrag

Stefan Petermann: Der Schlaf und das Flüstern. asphalt & anders, Hamburg 2009.