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Gedichte
Spiel mit Archetypen – Sophia de Mello Breyner Andresen nutzt und verpasst Chancen
Ein Traditionsverlag wechselte den Besitzer. Kristof Wachinger übergab im Sommer 2010 kurz nach seinem 80. Geburtstag den drei Generationen im Familienbesitz befindlichen Verlag Langewiesche-Brandt an C.H. Beck, nicht ohne noch einmal drei Bücher vorzulegen, die deutlich seine Verlegerhandschrift trugen, u.a. zwei Gedichtbände, zu denen er wie bei zahlreichen anderen Titeln im Kellergeschoß des Ebenhausener Verlagshauses auf seiner dort eingerichteten "Offizin Tertia" die Umschläge eigenhändig setzte und druckte. Schmale Bände, wie seit jeher, da er als Erster bedeutende Lyriker der Weltliteratur wie E.E. Cummings, Robert Frost, Sergej Jessenin oder Wladimir Majakowski in zweisprachigen Ausgaben vorlegte. Wachinger war es auch, der Sarah Kirsch 1969 im Westen veröffentlichte oder nach hartnäckigem, zehn Jahre währendem!! Drängen 35 Gedichte von Richard Leising, (einem leider viel zu oft Vergessenen der Sächsischen Dichterschule, dem selbst mit Veröffentlichungen kaum beizukommen war). Wachinger hat unzählige Geschichten zu erzählen. Die rund 600 Bücher, die er zusammen mit seiner Frau Helga verlegt hat, sind eine ganz besondere Bibliothek.
Als eine Art Abschiedsgeschenk darf man die 2010 als deutsche Erstausgabe in der Reihe „textura“ erschienenen „Poemas – Gedichte“ von Sophia de Mello Breyner Andresen sehen. „Weltklasse“ hat Wachinger sie – nicht ohne Entdeckerstolz - selbst kategorisiert. Das hat zu tun mit den Kategorien, die Mello Breyner Andresen’sche (ihren Namen muß man in Anthologien sowohl unter A, als auch unter B oder M suchen – da ist nichts entschieden) in ihren Gedichte angeht, große klassische Themen von den Furien bis zur Irrfahrt, vom Weil bis zum Wenn und Warum, klassisch und doch so neu und gerade, wie eine Zwiesprache in die Welt geschrieben, daß sie sich fast nie antiquiert oder verschnörkselt aufblättern.
Sophia de Mello Breyner Andresen wurde 1919 in Porto geboren, auf der „Quinta do Campo Alegre“, heute der Botanische Garten der Stadt mit alten Kamelienhecken und großen Araukarien. Ihr Vater, der Weinhändler Henrique Andresen, hat den Park angelegt - “ein fabelhaftes Stück Erde mit einer großen und reichen Familie, die von einer großen Dienerschaft umsorgt wurde.“ (wikipedia). 1944 veröffentlicht Sophia, wie sie in Portugal kurzerhand genannt wird, ihren ersten Gedichtband und ab 1946 lebt sie in Lissabon. Sie arbeitet im Umkreis der Zeitschrift „Cadernos de Poesia“ an ihren Texten, wo verstärkt spanische aber auch angelsächsische Dichter kursieren wie Pound oder Eliot und wo man nicht aufhört an der Sprache zu arbeiten, selbst wenn ästhetische Etappen auf der Strecke zum Gedicht längst erreicht scheinen. Modernität greift um sich. Es soll tiefer gehen. In die Dinge hinein und schließlich zum Raum werden. „Ein Bild ist das, was einen intellektuellen und emotionalen Komplex in einem Augenblick präsentiert“ sagt Pound – Sophia lebt das. Sie stimmt Bilder nicht auf der Wortebene an, sondern als Komplex.
Großräumig sind ihre Gedichte und immer geblieben. Manchmal monumental. In ihnen läßt sie Mythen und Archetypen auftreten und die großen Begriffe bekleiden, die im Leben eigentlich eine Rolle spielen (und/oder: in denen unser Leben eine Rolle spielt). Man denkt an Pessoas berühmtes Gedicht: „Wir alle haben zwei Leben. / Das wahre, / das wir uns in der Kindheit erträumen / und als Erwachsene manchmal weiterträumen auf Nebelgrund; // das falsche, / das wir gemeinsam mit andern verbringen, / das praktische, nützliche; /Das Leben, worin man uns schließlich in einen Sarg legt.“ Das erstere bleibt das Leben der fünffachen Mutter Sophia de Mello Breyner Andresen. Trotz Eingespanntsein will sie sich nicht berauben lassen um den sauberen Blick auf Schönheit und elende Tragik der Welt.
Auf jeden Menschen, sagt Jean Paul, wird im Augenblick der Geburt ein Pfeil abgeschossen; er fliegt und fliegt und erreicht ihn in der Todesminute. Manchmal kann man ihn sehen, wie er heranschwirrt in plötzlich karger Gegend. “Trotz der Ruinen, trotz dem Tod, / die jede Illusion zunichte machten,/ sind meine Träume voller Kraft, / ein Hochgefühl entspringt aus allem, / und nie sind meine Hände leer.” schreibt Sophia. Daß sie nicht ins Leere greift, liegt auch daran, daß sie nichts festhält. „An allem, was ich sehe, wachse ich.“ Und durch alles, was man weggibt, wird man reich. Das sind Mitschnitte sehr einfacher Wahrheiten, die Sophia einklebt in ihre Gedichte, die so aus dem Lusophonen hinaus ins Weltdrama exportiert werden können. „Und frei bewohnen wir die eigentliche Zeit“ – ein Satz der dann stimmt, wenn die Welt zum Personalausweis wird und die Person zur Welt: „Immer hatte der zu viele Feinde / der es wagte, ganz er selber zu sein“. Die eigentliche Zeit beginnt dort, wo das Eigene keine falschen Adressen mehr hat. „Ich habe mich entschlossen hier zu bleiben.“ schreibt sie in einem Gedicht. Ein simpler Satz und doch eine Entscheidung von großer Tragweite: Lissabon kann man hinter sich lassen, New York oder London ebenso, das Hier nicht.
Sophia de Mello Breyner Andresen war die erste portugiesische Frau, die 1999 den wichtigsten literarischen Preis Portugals, den „Prémio Camões“, erhielt. Sie starb im Juli 2004 in Lissabon. Kristof Wachinger hat uns einen Gedichtband zugespielt, der Zeitlosigkeit will durch die Kombination von Klassik und Gegenwart, im Original oft gereimt, in der Übersetzung aus Gründen der Einfachheit nicht.
Originalbeitrag
Andresen, Sophia de Mello Breyner: Poemas – Gedichte. Nachwort von Maria João Borges. Auswahl und Übersetzung von Maria de Fátima Mesquita-Sternal und Michael Sternal. C.H. Beck, München 2010 (eigentlich Langewiesche-Brandt).