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Roman
Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Margarita Chemlins Roman „Die Stille um Maja Abramowna“
20.06.2012 | Hamburg
Wie entwickelt sich ein Leben in einer feindlichen Gesellschaft, in der man um jedes Stückchen Glück kämpfen muss? Die ukrainische 1960 geborene Autorin Margarita Chemlin erzählt in ihrem 2009 erschienenen ersten Roman die Geschichte der Jüdin Maja Abramowna, die unentwegt und um jeden Preis glücklich sein will und dabei wesentliche Bedingungen missachtet. Dies stürzt die Menschen, die sie am meisten liebt, ins Unglück.
„Ich bin Jahrgang 1930, und wie alle in meiner Generation habe ich mehr gesehen, als guttut.“ Dieser Satz steht auf der ersten Seite und knapp dreihundert Seiten später bekennt die inzwischen 78jährige Protagonistin sie müsse einräumen, „dass ich manches gern korrigieren würde.“ Dazwischen steht die ununterbrochene Suche, sowohl gesellschaftlich als auch privat einen Platz zu finden, sich irgendwo, „häuslich einzurichten“, um wieder mit Adorno zu sprechen. Wichtig sei es, sagt die Ich-Erzählerin, wie ein Mensch seinen Weg gegangen sei. Dass sie dies aber während ihres langen Lebens für sich nicht erkennt, zeigt die Tatsache, dass sie über dreißigmal ihre eigenen Ausführungen zurücknimmt, indem sie leitmotivartig feststellt „aber darum geht es nicht.“
Da sie von Beginn an erfährt, dass auch nach dem überstandenen Naziterror Juden in der Sowjetunion bedroht und diskriminiert werden, setzt sie alles daran, ihre jüdische - teilweise sogar ihre ukrainische - Identität zu verschleiern und verlernt dadurch, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen. Damit sich alles so entwickelt wie sie es sich vorstellt, schreckt sie auch vor Lügen nicht zurück und entfaltet eine ausgeprägte Fähigkeit, ihre Umgebung zu manipulieren. Dies schlägt sich besonders bei ihren Kindern Mischa und Ella nieder, die das unechte Leben ihrer Mutter spüren. Ihrem Sohn enthält sie die Wahrheit über seinen wirklichen Vater vor, verbietet ihm mit seiner Großmutter Jiddisch zu sprechen und verhindert so seine Identitätsfindung. Dafür hat sie ein schönes Bild, in dem sie zeigt, dass Mischa, je nachdem wem er Briefe schreibt, eine andere Handschrift benutzt. Ein Selbstmordversuch und die zunehmende Entfremdung von ihr sind die Folge ihrer Erziehung.
Die Tochter Ella, die nach mehreren gescheiterten Ehen und Affären zu einer Art Liebesersatz wird, entwickelt sich gar zu einem „Monster“. Sozusagen als Schutzpanzer schleppt sie schon als kleines Mädchen ein Übergewicht mit sich herum und ist auch sonst in ihrer Aufsässigkeit und Gemeinheit nicht leicht zu ertragen. Da sie ihre jüdischen Wurzeln spürt, diese aber nicht ausleben darf, lehnt sie alles Jüdische heftig ab, was darin gipfelt, dass sie eine wertvolle Mesusa wegwirft, in der Schule ihre Eltern verleugnet und behauptet, sie sei adoptiert. Eine Lehrerin wirft Maja vor: „Wie kann man …. seine Kinder so erziehen, dass sie bei der bloßen Erwähnung ihrer eigenen ureigensten Nationalität schon einen Tobsuchtsanfall bekommen?“
Und die Liebe? Nachdem sie erfahren hat, dass auch bei Mischas wirklichem Vater, einem Professor, bei dem sie Mathematik fürs Lehramt studiert, ihre Herkunft einer Verbindung im Weg steht, geht die Protagonistin auch auf diesem Gebiet pragmatisch vor. Wohnraum ist knapp und es spricht für den jeweils Auserwählten, wenn er über genügend Zimmer verfügt, auch wenn dabei die kranke Schwiegermutter eine Rolle spielt: „Mit dem Tod der Mutter wäre die Zweizimmerwohnung für uns vollends außer Reichweite gerückt.“
„Besondere Gefühle hatte ich für Fima nicht entwickelt, sagt sie über ihren ersten Ehemann und: „Ja, das Schicksal hatte zugeschlagen“ über ihren dritten. Doch Maja ist bindungsunfähig, so wie sie behauptet, die „Akte Mischa ist abgeschlossen“, flieht sie bei den ersten Schwierigkeiten aus ihren Ehen.
Dennoch kann sie über den gesamten Zeitraum der Erzählung keinen echten Schlussstrich ziehen. Obwohl sie lebenslang mit ihrer Herkunft hadert, zieht es sie immer wieder in ihren Geburtsort Ostjor zu den Menschen, die ihr Judentum nicht verleugnen und die bei Beerdigungen in ihrer jiddischen Muttersprache das Kaddisch sprechen. Dort leben ihre Mutter, der alte Partisan Gilja, ihr erster Ehemann Fima, der wegen seiner im Krieg ermordeten Familie verrückt geworden ist, sowie dessen spätere Verlobte Bluma. Diese Menschen bilden die Folie ihrer Lebensgeschichte und obwohl auch sie die Ereignisse im Krieg und das Leben in der sowjetischen Realität beschädigt haben, bewahrten sie sich im Gegensatz zu Maja ihre authentischen Gefühle.
Der Schwerpunkt der erzählten Zeit behandelt die Jahre, in denen die Ich-Erzählerin zwischen 20 und 45 Jahre alt ist. Kindheit und Alter – auch immer wieder einige Zeit dazwischen - sind sehr gerafft. „So verging ein Jahr.“ „Und dann noch ein Jahr“. Die Handlung spielt in Ostjor, Kiew und Moskau. Da der Roman aus der Ich-Perspektive geschrieben ist, erfährt der Leser nur das, woran ihn die Ich-Erzählerin teilhaben lässt und auch das Wie wird durch sie bestimmt. Doch Margarita Chemlin gelingt es hervorragend, gerade durch die Sprache ihrer Protagonistin, die sich alles schönredet und ihre Handlungen durch offensichtlich falsche Rechtfertigungen begründet, diese in ihrer Verzweiflung zu charakterisieren. Beispielsweise will sie nicht, dass Mischa sich mit dem geisteskranken Fima trifft, sagt aber: „Ich kam zu dem Schluss, dass ich mir keine Sorgen machen musste. Dass Mischa mit Fima in Berührung kam, hatte sogar sein Gutes. So lernte er, geduldig zu sein…" Oder sie weigert sich Mischas Briefe zu lesen, weil sie Angst hat, er spreche schlecht vor ihr: „Es war klar, dass in den Briefen nur Lügen standen.“ Dass Maja trotz aller Bemühungen einsam geblieben ist, zeigt die Autorin in einer Szene, in der Maja ein Telefon bekommen hat, aber niemanden kennt, den sie anrufen kann. Daher spricht sie mit sich selbst in den Hörer. Das Echo ihres Lebens kommt aus dem Unbewussten. Wenn sie von Micha, der bei der Marine ist, träumt, er könne nicht schwimmen und habe Angst, gelingt es ihr nicht mehr, ihre wahren Gefühle zu unterdrücken.
Ob sie immer noch eine Partisanin spiele, wird Maja einmal von einem väterlichen Freund gefragt. „Du kämpfst gegen deine Leute. Du fühlst dich hinter feindlichen Linien bei ihnen. Die Sache ist nur, dass sie auch hinter deinen Linien sind. Und den Sieg erringt man letzten Endes nur an vorderster Front.“ Ob Maja will oder nicht, am Ende geht sie – allein - genau dorthin zurück. Nach Ostjor, wo alles seinen Anfang nahm. „Danach ist in meinem Leben nichts mehr passiert.“ Ihre Kinder, ihre Männer, ihre Verwandten, sind abwesend oder gestorben. Die Stille um Maja Abramowna ist vollkommen.
Dem für den russischen Booker-Preis nominierten Roman ist eine große Leserschaft zu wünschen. Ist das Schicksal der Protagonistin doch eingebettet in den sowjetischen Alltag, von dem der Leser durch immer wieder eingestreute reale Begebenheiten und Personen eine Menge erfährt. Sehr lobenswert sind die Anmerkungen der Übersetzerin Olga Radetzkaja, in denen sie den deutschen Lesern Hintergründe erläutert.
Exklusivbeitrag
Margarita Chemlin, Die Stille um Maja Abramowna, 301 S, 24,95 € Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2009