weitere Infos zum Beitrag
Gedichte
Dichtung von Abaelard bis Zoroaster
Ankunft, zu früh
Einen Augenblick!
sagt die babylonische Sklavin am Empfang
Ihr Zimmer ist gleich so weit!
Und in Windeseile wird das Liebeslaken
von Heloise und Abaelard ausgewechselt
Agamemnons Blut aus der Badewanne gespült –
Hans Castorps Zigarrenstummel verschwindet im Müll –
die Papiertaschentücher
voller Sputum der Kameliendame
und die zerknüllten Notenblätter von Verdi
landen im selben Plastiksack –
Eine Hand rückt den Lapis Niger
als Briefbeschwerer zurecht –
Auf dem Kopfkissen
mit dem Kaiser Tiberius erstickt worden ist
prangt ein Pralinenherz –
hübsch platziert
von dem zwinkernden Zimmermädchen
Kassandra
Jedes einzelne Bild wirft sein Zwielicht und die Spannung zieht an wie in einem Kürzestthriller. Für alle diejenigen, die glauben, sich wohler zu fühlen bei Texten, die in Gegenwelten und Pop-Referenzen „daheim“ sind und sich pro Vers gleich gegen dreierlei Missstände der Facebook-Gesellschaft auflehnen, sei gesagt, dass Steinherr alle Anspielungen auf westeuropäisches Wissen in ganz neuer Kombination „resampelt“ und durchmischt. Ganz ohne externe Referenz kommen wenige Texte aus. Gerade die ersten beiden Kapitel durchzieht somit ein etwas altmodischer Anhauch, der freilich gewollt ist und auch seinen speziellen Retro-Charme hat, noch verstärkt durch die alte Rechtschreibung. So werden traditionell erprobte Inhalte leicht und luftig präsentiert; es sind zumeist sehr filigran hingeworfene, um nicht zu sagen flüchtig aquarellierte Texte, die wenig Schnörkel notwendig haben. Dabei besticht die große Klarheit der Szenarien und Metaphern. Es werden neue und ungewöhnliche Bilder gefunden, oft auch schonungslos und mitunter schockierend: Heilige Agatha von Catania – / vergiß für einen Augenblick / deine abgeschnittenen Brüste / die du auf einer Servierplatte / wie zwei Kuchen vor dir herträgst. Trotz des verstörenden Bildes nimmt sich der Text förmlich selbst die Schwere aus den Worten. Dem gegenüber steht Steinherrs Geschick, aus kleinen Alltagsbeobachtungen, entsprechend dem romantischen Eichendorffschen Motto Schläft ein Lied in allen Dingen, ein großes Spektrum an Bildern von großer Intensität zu erschaffen. Steinherrs Gedichte sind oft Sammlungen ganz feiner Dinge. Lied in allen Dingen heißt auch ein Gedicht in der Sammlung, in welchem sich selbst die bewußtlosen Steine regen. Seien es die ernsten blassen Göttinnen der Daguerrotypien – oder, sehr eindrücklich auch, das Bild eines Momentes, der „fällt“ wie ein Fieberthermometer: überall rollen / die silbernen Kügelchen // unmöglich / sie einzufangen // mit bloßen Händen // so gleißend / so vipernflink // rollen sie und / teilen sich unendlich // rollen in / Ritzen und Spalten // auf Nimmerwiedersehen.