Ganz Ohr

Gedichte

Autor:
Ludwig Steinherr
Besprechung:
Armin Steigenberger
 

Gedichte

Dichtung von Abaelard bis Zoroaster

In den ersten beiden Kapiteln wird kenntnisreich angespielt auf Wissen: Anubis, Bacchus, Caravaggio, Abraham und Judith und last but not least der apokalyptische Reiter verteilen sich auf gerade mal zwei Gedichte. Steinherrs Dichtungen sind so gesehen anspielungsreich, belesen und nachgerade inspiriert von Kenntnissen aus der Antike. Der schlaflose[n] Logos, das ekstatisch[e] Zeta, der schiefeste[n] Orkus … ab und zu bleibt dabei ein gewisser Eindruck von Überfrachtung. Etliche Bilder entstammen dem Bereich des Sakralen. Eventuell fragt sich derjenige, dem all diese Anspielungen fremd sind, worin der Mehrwert liegt und ob er „das alles“ wissen muss? Denn sie setzen für Begriffe wie Spiritus asper sogar humanistische Bildung voraus. Wobei viele der Anspielungen lediglich eine zusätzliche Ebene anbieten, die man goutieren kann, wenn sie sich einem erschließt. Bei Steinherr gibt es nie ein Muss. Auch wenn in den ersten zwei Kapiteln die – wie man so sagt – Bildungsbeflissenheit etwas dicht ist, so ist sie insgesamt wohldosiert und bleibt im „grünen Bereich“. Einer der mitreißenden Texte der Sammlung ist

 

Ankunft, zu früh

 

Einen Augenblick!

sagt die babylonische Sklavin am Empfang

Ihr Zimmer ist gleich so weit!

 

Und in Windeseile wird das Liebeslaken

von Heloise und Abaelard ausgewechselt

 

Agamemnons Blut aus der Badewanne gespült –

 

Hans Castorps Zigarrenstummel verschwindet im Müll –

 

die Papiertaschentücher

voller Sputum der Kameliendame

und die zerknüllten Notenblätter von Verdi

landen im selben Plastiksack –

 

Eine Hand rückt den Lapis Niger

als Briefbeschwerer zurecht –

 

Auf dem Kopfkissen

mit dem Kaiser Tiberius erstickt worden ist

 

prangt ein Pralinenherz –

 

hübsch platziert

von dem zwinkernden Zimmermädchen

Kassandra

 

Jedes einzelne Bild wirft sein Zwielicht und die Spannung zieht an wie in einem Kürzestthriller. Für alle diejenigen, die glauben, sich wohler zu fühlen bei Texten, die in Gegenwelten und Pop-Referenzen „daheim“ sind und sich pro Vers gleich gegen dreierlei Missstände der Facebook-Gesellschaft auflehnen, sei gesagt, dass Steinherr alle Anspielungen auf westeuropäisches Wissen in ganz neuer Kombination „resampelt“ und durchmischt. Ganz ohne externe Referenz kommen wenige Texte aus. Gerade die ersten beiden Kapitel durchzieht somit ein etwas altmodischer Anhauch, der freilich gewollt ist und auch seinen speziellen Retro-Charme hat, noch verstärkt durch die alte Rechtschreibung. So werden traditionell erprobte Inhalte leicht und luftig präsentiert; es sind zumeist sehr filigran hingeworfene, um nicht zu sagen flüchtig aquarellierte Texte, die wenig Schnörkel notwendig haben. Dabei besticht die große Klarheit der Szenarien und Metaphern. Es werden neue und ungewöhnliche Bilder gefunden, oft auch schonungslos und mitunter schockierend: Heilige Agatha von Catania – / vergiß für einen Augenblick / deine abgeschnittenen Brüste / die du auf einer Servierplatte / wie zwei Kuchen vor dir herträgst. Trotz des verstörenden Bildes nimmt sich der Text förmlich selbst die Schwere aus den Worten. Dem gegenüber steht Steinherrs Geschick, aus kleinen Alltagsbeobachtungen, entsprechend dem romantischen Eichendorffschen Motto Schläft ein Lied in allen Dingen,  ein großes Spektrum an Bildern von großer Intensität zu erschaffen. Steinherrs Gedichte sind oft Sammlungen ganz feiner Dinge. Lied in allen Dingen heißt auch ein Gedicht in der Sammlung, in welchem sich selbst die bewußtlosen Steine regen. Seien es die ernsten blassen Göttinnen der Daguerrotypien – oder, sehr eindrücklich auch, das Bild eines Momentes, der „fällt“ wie ein Fieberthermometer: überall rollen / die silbernen Kügelchen // unmöglich / sie einzufangen // mit bloßen Händen // so gleißend / so vipernflink // rollen sie und / teilen sich unendlich // rollen in / Ritzen und Spalten // auf Nimmerwiedersehen.