Ganz Ohr

Gedichte

Autor:
Ludwig Steinherr
Besprechung:
Armin Steigenberger
 

Gedichte

Dichtung von Abaelard bis Zoroaster

Hier ist alles ganz nah beieinander: Glück, Freude, Überraschung, Unglück, Trauer, Schönes und Schreckliches: schillernd entgleitet etwas emotional nicht Fassbares wie ein silbern gleißendes schlangenartig davonhuschendes Vexierbild, ein flüssiger Spiegel, zersprengt in tausenderlei Tropfen und Tröpfchen. Den davon rollenden Quecksilberkügelchen huscht die Emotion hinterher, spiegelt sich bunt in ihnen und ist so schnell wie sie kam auch schon dahin.

So funkelt in vielen Texten enorme Leichtigkeit, die zum Ende des Bandes hin immer weiter zunimmt. Im Text Spuren kommt die Spurensicherung, um Worte und Wörtliches sicherzustellen: Jeder Blick jede Geste / eben noch frei im Raum schwebend / wird eingesammelt etikettiert / Lippenstift auf Vokalen fixiert / Die Pinzette zieht Konsonantensplitter aus einer Serviette. Hier und da stehen blitzgescheite Einfälle auf dem Papier wie das Museum der schönen Ideen: ein gelungenes Bild mit einigem Erkenntnisgehalt und zudem einiger politischer Relevanz – überdies Titel eines Kapitels, das mit folgendem Text beginnt, der seine Inspiration quasi ex negativo bezieht:

 

Schaufenster mit alten Leicas

 

Ihr archaischen Höllenmaschinen

böse lauernd –

 

Bis euer einziges Krokodilsauge

zuschnappt

und den nächstbesten Moment verschlingt –

 

In die Unterwelt hinab schlingt ihr ihn

kopfüber in den schiefesten Orkus

in die verkehrte Welt

des Negativs –

 

Da sitzen wir zu Tisch

beim Totenmahl

schwarze Gesichter

gespenstisch grinsend

von weißem Haar umlodert

unter schwarzem Aschehimmel –

 

Nur schwärzeste Kunst kann uns retten

okkulte Riten

bei rötlichem Schimmer –

 

daß wir schließlich doch

als fröhliche Gesellschaft

aus dem Entwicklerbad auftauchen –

 

triefend euphorisch

 

dem Hades entrissen

 

Eine überraschende Abwechslung, auch hinsichtlich der Form, bildet das letzte Kapitel Glückskekse und Knallbonbons. Nun wird es sehr luftig: hier gibt es Sätze, die wie Aphorismen wirken und genauso funktionieren – und dennoch manchmal adhoc keinen Sinn ergeben. Sätze, bei denen man sich nicht sicher ist, ob diese gedankenblitzartigen Aperçus einem Poesiegenerator entstammen oder nur sporadische Niederschriften sind, die – ähnlich Peter Handkes Ein Jahr aus der Nacht gesprochen – aus Geträumtem „extrahiert“ und fixiert wurden?

Hören Sie auf Ihren Regenschirm! Er versteht die Sprache der Schatten!

Oder sind es überkandidelte Splitter, exaltierte Fraktale, reich an poetischen Einfällen, die ganz einfach plötzlich da waren? Man rätselt und liest und rätselt und liest und ist dabei angetan vom eigentümlich heiteren Sound dieser leichten Sentenzen.

Überlassen Sie Metaphysik dem Salzstreuer!

Und dennoch haben sie zumeist einen wahren Kern, den man finden kann – oder auch nicht. Falls nicht:

Wechseln Sie bei nächster Gelegenheit die Galaxie!

 

*Ludwig Steinherr, geboren 1962 in München, studierte Philosophie und promovierte über Hegel und Quine. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, u. a. den Leonce-und-Lena-Förderpreis, den Evangelischen Buchpreis und den Hermann-Hesse-Förderpreis. Seit 2003 ist er Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Seine Gedichte wurden vielfach übersetzt. Zuletzt erschienen in der Lyrikedition 2000 Kometenjagd (2009) sowie in der englischen Edition Arc Publications der zweisprachige Auswahlband Before the Invention of Paradise (2010).



Exklusivbeitrag

Ludwig Steinherr: Ganz Ohr, Gedichte, Hardcover, 128 Seiten, 22,50 Euro, ISBN: 978-3-86906-333-1, Lyrikedition 2000, München 2012

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