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Gedichte
Dichtung von Abaelard bis Zoroaster
So funkelt in vielen Texten enorme Leichtigkeit, die zum Ende des Bandes hin immer weiter zunimmt. Im Text Spuren kommt die Spurensicherung, um Worte und Wörtliches sicherzustellen: Jeder Blick jede Geste / eben noch frei im Raum schwebend / wird eingesammelt etikettiert / Lippenstift auf Vokalen fixiert / Die Pinzette zieht Konsonantensplitter aus einer Serviette. Hier und da stehen blitzgescheite Einfälle auf dem Papier wie das Museum der schönen Ideen: ein gelungenes Bild mit einigem Erkenntnisgehalt und zudem einiger politischer Relevanz – überdies Titel eines Kapitels, das mit folgendem Text beginnt, der seine Inspiration quasi ex negativo bezieht:
Schaufenster mit alten Leicas
Ihr archaischen Höllenmaschinen
böse lauernd –
Bis euer einziges Krokodilsauge
zuschnappt
und den nächstbesten Moment verschlingt –
In die Unterwelt hinab schlingt ihr ihn
kopfüber in den schiefesten Orkus
in die verkehrte Welt
des Negativs –
Da sitzen wir zu Tisch
beim Totenmahl
schwarze Gesichter
gespenstisch grinsend
von weißem Haar umlodert
unter schwarzem Aschehimmel –
Nur schwärzeste Kunst kann uns retten
okkulte Riten
bei rötlichem Schimmer –
daß wir schließlich doch
als fröhliche Gesellschaft
aus dem Entwicklerbad auftauchen –
triefend euphorisch
dem Hades entrissen
Eine überraschende Abwechslung, auch hinsichtlich der Form, bildet das letzte Kapitel Glückskekse und Knallbonbons. Nun wird es sehr luftig: hier gibt es Sätze, die wie Aphorismen wirken und genauso funktionieren – und dennoch manchmal adhoc keinen Sinn ergeben. Sätze, bei denen man sich nicht sicher ist, ob diese gedankenblitzartigen Aperçus einem Poesiegenerator entstammen oder nur sporadische Niederschriften sind, die – ähnlich Peter Handkes Ein Jahr aus der Nacht gesprochen – aus Geträumtem „extrahiert“ und fixiert wurden?
Hören Sie auf Ihren Regenschirm! Er versteht die Sprache der Schatten!
Oder sind es überkandidelte Splitter, exaltierte Fraktale, reich an poetischen Einfällen, die ganz einfach plötzlich da waren? Man rätselt und liest und rätselt und liest und ist dabei angetan vom eigentümlich heiteren Sound dieser leichten Sentenzen.
Überlassen Sie Metaphysik dem Salzstreuer!
Und dennoch haben sie zumeist einen wahren Kern, den man finden kann – oder auch nicht. Falls nicht:
Wechseln Sie bei nächster Gelegenheit die Galaxie!
*Ludwig Steinherr, geboren 1962 in München, studierte Philosophie und promovierte über Hegel und Quine. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, u. a. den Leonce-und-Lena-Förderpreis, den Evangelischen Buchpreis und den Hermann-Hesse-Förderpreis. Seit 2003 ist er Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Seine Gedichte wurden vielfach übersetzt. Zuletzt erschienen in der Lyrikedition 2000 Kometenjagd (2009) sowie in der englischen Edition Arc Publications der zweisprachige Auswahlband Before the Invention of Paradise (2010).
Exklusivbeitrag
Ludwig Steinherr: Ganz Ohr, Gedichte, Hardcover, 128 Seiten, 22,50 Euro, ISBN: 978-3-86906-333-1, Lyrikedition 2000, München 2012