Versnetze_eins_bis_ fünf

Anthologie

Autor:
Herausgeber: Axel Kutsch
Besprechung:
Matthias Hagedorn
 

Anthologie

Lyrik als Zusammenführungskunst

30.07.2012 | Hamburg

Ohne die Lyrikanthologien von Axel Kutsch wäre das literarische Leben im deutschen Sprachraum deutlich ärmer. Dieser Herausgeber hat einen anderen Begriff davon, was diese Gattung leisten muß. Die von ihm seit 1984 fast jährlich herausgegebenen Sammelbände fügen sich ineinander mit eiszeitlicher, in geologischen Epochen denkender Zwangsläufigkeit, als fortschreitende Bewegung. Er denkt in Werkzusammenhängen
, was ihn zu einer Ausnahmeerscheinung macht. Zuletzt erschien »Versnetze_fünf«, eine Anthologie, die primär nach Postleitzahlen angeordnet ist. Zu entdecken ist auf diese übergreifende Weise eine Lyriklandschaft, die sich Metropole wie Hinterland widmet. Über seine Arbeit als Herausgeber von Lyrik–Anthologien sagt Kutsch ergänzend zum Projekt »Kollegengespräche«*:

„Der Verlag schreibt gezielt Autorinnen und Autoren an. Von den Einsendungen ist zwar nicht alles zu verwenden, aber es bleiben immer genug annehmbare bis hervorragende neue Gedichte auch weniger bekannter Verfasser, mit denen man niveauvolle Anthologien füllen kann. Ich lege Wert darauf, nicht nur etablierten Lyrikern ein Forum für Veröffentlichungen zu bieten, sondern auch solchen, die sich bisher erst in ihren regionalen Szenen einen Namen gemacht haben.“

Als Herausgeber ist Axel Kutsch Entdecker. Zwischen Verbindlichkeit und Freiheit, zwischen Hierarchie und Innigkeit, Ordnung und Chaos findet er auch die Nadeln im Heuhaufen. Er hat früh erkannt, daß die aktuelle Lyrik auf einem viel höheren Niveau angesiedelt ist als die sogenannte Popliteratur. Die Postmoderne endete jedoch mit der Massennutzung des Internets, kaum niemand nimmt Notiz von ihrem Sterben, weil das Leben immer mehr von einer immer noch schneller werdenden, ja, wahnwitzigen Schnelligkeit geprägt zu sein scheint.

Die in »Versnetze_eins« bis »Versnetze_fünf« gebotene Vielfalt läßt sich im Rahmen dieses Aufsatzes kaum würdigen. Damit stehe ich nicht allein da, kompetente Buchkritiken werden durch geschmäcklerische Literaturtipps ersetzt. Gedichte, die auf ihre ästhetische Autonomie pochen und sich implizit als Gegenwelt zur geschichtlichen begreifen, werden dabei dem Generalverdacht ausgesetzt, im »luftleeren Raum« zu schweben, ja sogar einer »Wertverwahrlosung« Vorschub zu leisten. Die seriöse Buchauswahl verschwindet, stattdessen wird alles zur Geschmacksfrage degradiert. Der Markt beeinflußt die Wahl, bestimmt die Vorlieben und etabliert Werte. Selbst wenn Besprechungen nett gemeint sind, steht darin immer etwas, das erkennen läßt, daß nicht begriffen wurde, was die Autoren bei der Schreibarbeit tatsächlich beschäftigt hat. In den seltensten Fällen wird die ursprüngliche Aufgabe des Kritikers noch befolgt, über Literatur zu schreiben, bevor man sie beurteilt. Die Einzigartigkeit von Lyrik liegt, abgesehen von ihrer bestechenden Schönheit, in der Unkenntnis einer prosaischen Realität, die das Herzstück so vieler Bücher der Epoche ausmacht.

Die Leser von Lyrik haben nicht den Eindruck einer Unvollständigkeit von Anthologien und einzelnen Büchern, sondern den der Unabschließbarkeit dieser Literaturgattung, die einem Leben und vor allem einem damit engvermählten Werk angemessen ist, die gleichermaßen durch ungewöhnliche Komplexität wie durch untergründige Verbindungen gekennzeichnet sind. Nachzulesen in den hervorragend edierten Bänden der »Versnetze. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart«. Jedes Jahr wählt Kutsch, die repräsentativsten und die singulärsten Gedichte aus. So entsteht ein weit gespannter Überblick zur aktuellen Lyrik, und zugleich ergeben sich neue Perspektiven von experimenteller Poesie über Naturlyrik bis zur jungen Dichtung. Erinnerungsbilder tauchen in diesen Anthologien immer wieder auf, Bilder, in denen sich ein Ich seiner Wahrnehmung zu vergewissern sucht. Sie stehen neben leichten, beinahe heiteren Gedichten. Berührend sind die Liebesgedichte, und auch sie sind geprägt von mäandernden, schwingenden Suchbewegungen. Bisweilen werden sie einer strengen Form unterworfen, die sie mit geschickten Brechungen unterlaufen.

Kutsch über die Editionsarbeit: »Es spricht sich schnell in Deutschland herum, wenn irgendwo seriöse Anthologien ediert werden, also Sammelbände, bei denen die Autorinnen und Autoren sich nicht finanziell zu beteiligen brauchen und ebenso wenig zu Mindestabnahmen genötigt werden. Und dann hagelt es schon bald Gedichte. Manche Einsender schicken wenige Texte, andere 40 bis 50, obwohl in einer Anthologie bestenfalls ein paar Beiträge pro Autor veröffentlicht werden können. Es ist dann auch haufenweise lyrischer Schrott darunter, für dessen Lektüre man eigentlich Schmerzensgeld erhalten müßte. Aber als engagierter Herausgeber liest man alles bis zur letzten Zeile, ärgert sich, daß so viele Dilettanten sich offenbar für Dichter halten und legt den Kram ad acta: nicht verwendungsfähig. Ja, so wird man allmählich zum Lyrikmasochisten, in den Augen der Dilettanten wohl eher zum Sadisten, weil man von ihnen nicht mal einen Dreizeiler veröffentlicht. Allerdings bleiben immer genug annehmbare bis hervorragende neue Gedichte auch weniger bekannter Verfasser übrig, mit denen man Jahr für Jahr lesenswerte und niveauvolle Anthologien füllen kann. Da kommt Entdeckerfreude auf, die für den vielen Schrott entschädigt.«

Lesen ähnelt dem Schreiben, es ist ein kreativer Prozess. Schreiben fasse ich als das Auffinden eines verborgenen, inneren Textes auf. Die Arbeit Axel Kutschs besteht darin, dem Wesen des Menschen auf die Spur zu kommen – und zwar jenseits von Urteilen oder Therapievorschlägen –, und deshalb studiert er den Menschen sehr genau. Es muß Schriftsteller geben, die kritische Fragen stellen und hohe moralische Ansprüche vertreten, sonst bleibt nur die Barbarei. Wenn es stimmt, daß Lyriker als letzte Sinnstifter gesucht werden, ist es ein gutes Zeugnis für die westliche Gesellschaft, daß sie Lyriker als öffentliche Stimmen derzeit nicht benötigt. Hauptsache, die Lyriker werden gelesen. Umgekehrt hat ein Lyriker, der die Gesellschaft erst beeinflussen will, bevor er sie beschrieben hat, seinen Beruf verfehlt. Gute Lyriker sind beim Schreiben kühl und unbestechlich. Und sie lassen sich beim Nachdenken viel Zeit. Wünschen wir dem Herausgeber und Lyriker Axel Kutsch noch viele Mußestunden.


Originalbeitrag

Axel Kutsch (Hrg.): »Versnetze_eins« bis »Versnetze_fünf« Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart. Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2008 – 2012.