Von Verschlungenen verschlungen.

Roman

Autor:
Réjean Ducharme
Besprechung:
David Frühauf
 

Roman

Das große Aufbegehren

19.08.2012 | August

Mit L’avalée des avalés trat der frankokanadische Autor Réjean Ducharme 1966 ins literarische Scheinwerferlicht, nur um sogleich seine Rolle als öffentliche Person mit den Worten »Mein Roman ist öffentlich, ich aber bin es nicht.« wieder abzustreifen. Es sollte keine Verbindung zwischen ihm und seinen Texten hergestellt werden, und bis heute finden sich neben einer überschaubaren Anzahl von Romanen, Theaterstücken und Liedtexten tatsächlich nur vereinzelte Interviews mit seinen Eltern und zwei alte Fotos, die Hinweis auf ihn geben könnten. Sechsundvierzig Jahre später tritt nun der 2011 gegründete Schweizer Verlag Traversion den Weg an, diesen Debütroman, diesen Auf- und Urschrei unter dem Titel Von Verschlungenen verschlungen endlich auch auf Deutsch (in einer bibliophil gestalteten Ausgabe mit Begleittexten von Madeleine Stratfort und Thomas Ballhausen) lautstark erklingen zu lassen: »Ich heiße Bérénice Einberg und werde mich nicht in die Irre führen lassen.«

Bérénice Einberg ist die Tochter einer Katholikin und eines Juden, die nach ihrer Hochzeit übereingekommen sind, ihre Kinder gewissermaßen aufzuteilen. Der erstgeborene Christian geht an die Mutter, die zweitgeborene Bérénice soll jüdischen Glaubens erzogen und auf eine Welt vorbereitet werden, in der sie keine dreißig Jahre alt werden möchte, schließlich verlangt es sie viel eher noch »nach dem Leben in seiner verheerenden Unermesslichkeit als nach den sanften und zugerümpelten Verschlägen, die man darin eingerichtet hat.« Irgendwo auf einer Insel im Sankt-Lorenz-Strom entfaltet sich ihre von Ängsten, Gelüsten, elterlichen Ehekrisen und -kriegen, sowie die von Einsamkeit und Hass erfüllte Kindheit und Jugend. Von ihrem Verhalten vollkommen überfordert, wie auch von ihrem innigen Verhältnis zu ihrem Bruder, schickt ihr Vater sie schließlich nach New York, wo sie bei einer anderen Familie unterkommt. Als selbst dort die Entgleisungen nicht mehr zu bändigen sind, schickt man sie ins kriegsgebeutelte Israel der 60er Jahre. Während all dieser Stationen bleibt nichts und niemand verschont, weder der geliebte Bruder, noch der eigene, zu eng wirkende Körper. In einem Rundumschlag wird alles, was sie umgibt, verschlungen, ihren Gesetzen unterworfen und zerstört, damit sie endlich aus dem Chaos in ihr selbst hervortreten und frei sein kann. Bérénice ist »das Werk und der Künstler«, ist »der Nabel der Welt«, undsie ist es, die das Leben, Seite für Seite, zwischen Wahn und Wirklichkeit, Rausch und Ernüchterung strömen lässt. Dass es sich dabei anfangs noch um eine Neunjährige handelt, die spricht, gestaltet die inhaltliche Ebene keineswegs einfacher. In einem atemlosen inneren Monolog rüttelt sie – wunderbar übersetzt von Till Bardoux – wie besessen an den Normen der Obrigkeiten, tränkt ihre Worte in einem Gemisch aus Philosophie, Psychologie, Paranoia und Pornographie, und lässt doch stets eine verletzte, schutzbedürftige Person unter der Maske der Zynikerin sichtbar werden, der der Wunsch, noch einmal bei Null anzufangen, dem Verlangen nach Geborgenheit und Liebe entgegensteht. Es ist ein Protest gegen die Erwachsenenwelt, gegen das zu früh erkannte Übel der Einsamkeit, zugleich aber auch ein ständiger Kampf um Nähe. Diese Widersprüchlichkeit ist es jedoch schlussendlich, der sie nicht entkommen kann. So sehr sie sich auch sehnt, Bérénice Einberg ist und bleibt allein, gerade weil sie nicht von ihrem Hass loskommt und darüber hinaus vergisst, dass das Leben außerhalb ihres Kopfes weitergehen wird – auch ohne sie.

Kompromisslos und sprachmächtig lässt Ducharme seine Romanheldin auf der Suche nach der eigenen Identität ins Verderben laufen, und schafft es – trotz der Zeit, die zwischen der Erstveröffentlichung 1966 bei Gallimard und der Veröffentlichung 2012 bei Traversion liegt – nichts an Dringlichkeit und Zorn einzubüßen. Man folgt Bérénice mit großen Schritten, folgt ihrem Wüten und Wuchern, und lauscht den altklugen Flüchen dieser fragilen und zugleich so starken Figur, um am Ende in Ducharmes eigenen Worten sagen zu können: »Alles, was ich von einem Buch verlange, ist, mir genau auf diese Weise Energie und Mut einzuflößen, mir genau so zu sagen, dass es mehr Leben gibt, als ich mir einverleiben kann, mir genau so die Dringlichkeit des Handelns ins Gedächtnis zu rufen.«


Exklusivbeitrag

Réjean Ducharme: Von Verschlungenen verschlungen. Aus dem Franz. von Till Bardoux. Beiheft mit Beiträgen von Thomas Ballhausen und Madeleine Stratford. Normalausgabe: Gebundenes Flexcover, fadengeheftet. Lesebändchen. 320 Seiten. 19,00 Euro. ISBN: 978-3-906012-00-1. Deitingen: Traversion 2012.Vorzugsausgabe: Limitierte und nummerierte Auflage von 30 Exemplaren. Geprägter Ledereinband. Lesebändchen. 320 Seiten. 120,00 Euro. ISBN: 978-3-906012-01-8. Deitingen: Traversion 2012.

Vorzugsausgabe