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Zeitschrift für Literatur und Kunst
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22.10.2012 | Hamburg
Lass uns uns wieder schreiben
und lies unbedingt dieses Buch
»Schöne Briefe«
Lieber Dirk,
was kann es schöneres geben, als den künstlerischen Dialog? Weißt Du noch - ich schrieb Dir einen Brief wie ein Gedicht, und Du antwortetest mir mit einem Foto wie ein Gedicht, aus der von Deinem Großvater geerbten polnischen Rollbildkamera, was einen besonderen Reiz hatte, weil Du die Bilder im eigenen Fotolabor entwickeltest mit extra breitem Rand auf grobkörnigem Papier. Unser Briefwechsel (echt, mit der Post!) florierte Ende der 90er Jahre, bis zu 4 in der Woche waren es, erst später ist uns aufgefallen, wie dicht soetwas ist, und dass wir mal was draus machen sollten; doch lange Zeit schrieben wir uns gar nicht, Katastrophen mussten erst dazwischen kommen - bei Dir die Krankheit, bei mir die Familie - damit wir nicht mehr nur unsere Kunst machten, sondern sie wieder direkt an jemanden richteten, bzw. uns von dem anderen inspirieren ließen (Der Zusammenhang von Kunst und Katastrophen...). Und genau in dem Moment, fällt mir eine Zeitschrift, mit dem irreführenden, bei näherer Betrachtung aber zwingend notwendigen Titel »Belletristik«, in die Hände. »Schöne Briefe« übersetze ich.
ein Kettenwerk
Das Konzept begeistert mich sogleich und überzeugt durch die gelungene Umsetzung: Ein Autor schreibt ein Gedicht, eine Illustratorin zeichnet dazu, eine Autorin schreibt zu der entstandenen Zeichnung und reicht es dem nächsten Illustrator weiter... ein Ketten-Werk.
Ich kann nicht rechnen
Das 76 Seiten umfassende Heft kann von beiden Seiten gelesen werden und die Seiten sind doppelt nummeriert; in der Mitte dreht man es einfach um, und blättert wieder bis vorn. So ist einmal ein Gedicht auf dem Cover und einmal ein Bild zu sehen.
Ich zerbreche mir allerdings den Kopf darüber, wie es sein kann, dass die 2 einmal mit der 37 und einmal mit der 38 zusammen im Inhaltsverzeichnis erscheint und beginne aus Mangel an mathematischer Begabung meine Lektüre einfach in der Mitte, mit einer doppelseitigen Illustration von Marina Friedrich, auf der ich meinen Schreibtisch wiederfinde, in einer Allee, leer, aber nicht aus Abwesenheit von Projekten, sondern weil er gelüftet werden muss. Auch die Bäume sind leer, bis auf die Birnen.
Inhalt
Auf der Tischplatte liegt mein Segelschein, in den Büschen die Boote, aber ohne Segel, mit Spinnenweben, am Ende der Allee das Haus meiner Kindheit; ich versuche herauszufinden, wie es mir ging, damals, aber, es ist wie eine architektonische Konstruktion, zwar nötig, aber unverständlich ..., viel wichtiger die Fragen, nach welcher Seite ich jetzt weiterlesen soll.
Am Ende weiß ich es. Zoroaster heißt das Gedicht von Sandra Trojan, was mir verrät, Wie unumgänglich / die Mitte der Welt als Terretorium doch ist. Dort kann man / kein Gewicht verlagern von einer Seite zur anderen. Also ist es egal, einfach egal, wohin ich blättere, das jüngste Gericht, was hier verhandelt wird, ist eher ein Stillstand der ewigen Gegensätze, aus dem allein der Mensch rausfällt, weil es nicht in seiner Natur liegt, auf dem Meeresboden zu verharren.... Auf der Illustration von André Gottschalk kann das Schiff nicht sinken, weil es kein Wasser mehr gibt, und die Kühe grasen auf kahlem Deck. Sie verweisen auf das allererste Gedicht (und hier sieht man: am besten liest es sich im Kreis) von Ron Winkler Gedanken einer Nutzfarnvertilgerin. Von Grashalm zu Grashalm hangeln sich die feinsinnigen Gedanken der Kuh, der ich Respekt zolle, weil sie den Weitblick hat, die Vorsokratiker mit Ludwig Wittgenstein zu verbinden ...Ich stehe, wenn man so will, fest in meiner Weichheit. Die wiederum eine Wiese ist. Deren zwischen herabgefallenen Schmetterlingen aufragenden Farne ich liebevoll grase. Ich umgehe die Schmetterlinge, berühre mich nicht mit ihrem einstigen Fliegen. Überhaupt vermeide ich Kontakt zu Tieren, die meinem Kasus widersprechen. Tiere für große Distanzen. Tiere, denen eine zu große Wimmeligkeit eignet. Tiere eben aus Eile und Blut.
Die Beiträge dieser Anthologie sind ein bisschen wie Briefe, weil sie so direkt sind, so spontan anmuten, z.B. Benswerks filligrane, floristische Zeichnung, deren zerfetzter Rand den Ringbuchblock verraten, zu Johanna Melzows Worten über den nahenden Frühling: später wenn die kalten tage schmelzen / pflücken sie abschiedsbriefe bilder und birnen, und auf Katja Spitzers comic-hafte Darstellung zu der Essenz aus Odile Kennels gestern: roch der Braten. Hätte gedacht: / Lapalie, Lapsus, Karneval, Mangel // an Schwingkraft, das ja... antwortet Stephan Reich mitin den ecken des schlafs / sträubt sich die geometrie // fast als tropften die wände zu boden / in schlieren / wachsen die gliedmaßen // aus dem gebäude, dem traum...
Was hat sich noch in die Lücken meines Gedächtnisses gegraben?: Linus Westheuser: abbruch: die lücken waren zuerst da. wo meine / hände einrasteten, bei dir. /.../ ich griff rein. haare. leder. wir stiegen auf./ schaufelten speed über die schulter wie nichts... erzeugt ein ganz ähnliches Bild, wie ich beim Umblättern auf der nächsten Seite finde. Dieter Judt hat allerdings ein paar Nuancen eingebaut, die mich überraschen und neugierig machen auf das nächste Gedicht, Swantje Lichtenstein...
Was ich sagen wollte, lieber Dirk... Lass uns weitermachen, lass uns uns wieder schreiben.
Und lies unbedingt dieses Buch!
Exklusivbeitrag
Belletristik 12: Zeitschrift für Literatur und Illustration. Herausgegeben von Johannes CS Frank, Andrea Schmidt und Dominik Ziller 7. Jahrgang, Nr. 12, Verlagshaus J. Frank Berlin August 2012