Mittendrin

Die Tagebücher 1966-1972.

Autor:
Hans Werner Richter, Hrsg: Dominik Geppert
Besprechung:
Florian Keisinger
 

Die Tagebücher 1966-1972.

Literarischer Netzwerker – Die Tagebücher von Hans Werner Richter zeigen den Grenzgänger zwischen Literatur und Politik

22.11.2012 | Hamburg

Eigentlich wollte Hans Werner Richter ja nie Tagebuch schreiben. Zumindest hatte er das 1965 in einem Essay mit dem unmissverständlichen Titel „Warum ich kein Tagebuch schreibe“ angekündigt. Dass er sich daran nicht gehalten hat, kann man jetzt in den von Dominik Geppert herausgegebenen Tagebüchern Richters aus den Jahren 1966 bis 1972 nachlesen. Das Buch ist mit einem exzellenten Anmerkungsapparat ausgestattet, der sowohl die Zeitumstände wie auch die auftretenden Personen ausführlich vorstellt und von Geppert selbst und seiner Mitarbeiterin Nina Schnutz erstellt wurde. Das ist hilfreich, denn bisweilen lesen sich Richters Notizen wie die Aufzeichnungen aus einer längst verlorengegangenen Welt. Warum Richter sich nur kurz nach seiner öffentlichen Absage an das Tagebuchschreiben genau dem selbigen zugewandt hat, darüber kann auch Geppert nur spekulieren. Vier Erklärungen bietet er an, warum Richter seine literarischen und politischen Eindrücke und Erfahrungen zwischen September 1966 und September 1972 – wenngleich unregelmäßig – in schriftlicher Form festgehalten haben könnte: Selbstreflexion in Zeiten des literarischen und politischen Umbruchs; Zweifel am Fortbestand der Gruppe 47; Sortierung der politisch-literarischen Alltagsdiskurse sowie der Versuch der gedanklichen Durchdringung – und Dokumentation! – des innen- und weltpolitischen Wandels.

Das leuchtet ein und lässt sich mit den Inhalten des Tagebuchs in Einklang bringen. Keine Frage: Literatur und Politik sind die beiden Fäden, die sich durch Richters Leben und Schreiben ziehen. Bemerkenswert ist dabei, dass es Richter in seinen Tagebüchern bei literarischen Themen fast immer um Politik geht; dass er sich aber zugleich mit Vehemenz dagegen wehrt, das Literarische mit Politik zu überladen („Wie dumm sind eigentlich Schriftsteller, wenn sie politisch werden?“) bzw. Literatur für politische Ziele zu instrumentalisieren („Damit wäre die Gruppe 47 eine Art sozialdemokratischer Wahlverein. Ich halte das für schlichten Unsinn.“) – eine Position, die ihm in den späten 1960ern und frühen 1970ern zahlreiche Konflikte sowohl mit revoltierenden Studierenden („Söhne von Großbürgern, die Revolution spielen“) als auch mit etlichen seiner Schriftstellerkollegen einhandelte.

Was ist damit gemeint? Hans Werner Richter selbst war kein großer Autor, wenngleich er zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht und damit auch eine durchaus beachtliche Leserschaft erreicht hat. Seine Rolle in der deutschen Literatur- und Nachkriegsgeschichte war aber in erster Linie die des Initiators, langjährigen Organisators und nicht zuletzt Moderators der „Gruppe 47“. Das ist, insbesondere vor dem Hintergrund der politischen Zuspitzungen in dieser Zeit – Autoren wie Martin Walser, Gisela Elsner, Erich Fried, Peter Rühmkorf oder Klaus Roehler liebäugelten offen mit dem Kommunismus –, eine beachtliche Leistung. In dieser Funktion kam ihm früh eine wichtige (und auch durchaus machtvolle) Rolle im literarisch-politischen Leben der noch jungen Bundesrepublik zu. Nicht nur mit Literaten und Intellektuellen, auch mit zahlreichen Politikern, vor allem aus den Reihen der Sozialdemokratie, aber auch von CDU und CSU, pflegte Richter einen regen Austausch. Politisch sah er sein Ziel mit dem Regierungsantritt der sozial-liberalen Koalition 1969 unter Willy Brandt – den er bereits aus dessen Zeit als Berliner Oberbürgermeister kannte – erreicht. Im vorangegangenen Bundestagswahlkampf hatten sich sowohl Richter wie auch zahlreiche weitere Autoren der „Gruppe 47“ – allen voran Günter Grass – mit Nachdruck für Brandt und die SPD stark gemacht. Es wäre verfehlt zu behaupten, und die Tagbücher zeigen dies eindrucksvoll, dass sich Richter seiner Mittlerrolle zwischen Politik und Literatur und dem Einfluss, der damit verbunden war, nicht bewusst gewesen wäre – ganz im Gegenteil, beides hat er genossen!

Andererseits, und auch das kann man in den Tagebüchern nachlesen, reagierte Richter bisweilen recht sensibel, wenn es um die politische Äußerungen und Aktionen „seiner“ Autoren ging. Hinzu kam, dass ihm die zunehmend „Politisierung“ der Literatur nicht behagte. Wird Grass für sein Engagement noch mit mehr oder weniger mildem Spott belegt („Die Chordamen und -herren nehmen Grass [bei der Beerdigung von Fritz Erler] die Sicht. Und er kann nicht gesehen werden, das ist schlimm“), erfährt Enzensberger die volle Ablehnung Richters: „er ist ein Politiker geworden. Wahrlich, von einem Scharlatan der Literatur zu einem Scharlatan der Revolution und nun zu einem Scharlatan der Wirtschaftspolitik geworden. Mehr scheint es mir nicht zu sein und mehr war es wohl nie.“

Richters Gratwanderung zwischen Literatur und Politik, zwischen der Suche nach Einfluss und der Besinnung auf die literarischen Grundlagen der „Gruppe 47“, die wiederum – und dessen ist Richter sich sehr wohl bewusst – die Voraussetzung für sein eigenes gesellschaftliches und politisches Wirken ist, markierte das Spannungsfeld, in dem sich Richter bewegte. Diese Dichotomie ist es schließlich auch, die seine Tagebücher der Jahre 1966 bis 1972 zu einer lohnenden Lektüre macht. Daneben findet man dort noch jede Menge Klatsch und Tratsch, Boshaftigkeiten und Eifersüchteleien sowie die üblichen Intrigenspiele der lieben Autorenkollegen. Wer sich dafür interessiert, sollte aber lieber direkt zum „Original“ greifen, den im vergangenen Jahr erschienenen Tagebüchern des Richter-Freundes Fritz J. Raddatz. Da lässt sich das alles noch sehr viel ausführlicher und auch stilistisch schöner nachlesen. 


Exklusivbeitrag


Hans Werner Richter: Mittendrin. Die Tagebücher 1966-1972.
Herausgegeben von Dominik Geppert in Zusammenarbeit mit Nina Schnutz. ISBN: 978-3406638428 24,95 € Verlag C.H. Beck München 2012.